Frau Rothämel, ein 14-jähriger Schüler Ihrer Schule ist von einem gleichaltrigen Mitschüler getötet worden. Ist das der Super-GAU für eine Schule?
Elke Helma Rothämel: Es ist jedenfalls für die gesamte Schulgemeinschaft an Unfassbarkeit nicht zu übertreffen. Es waren beides Schüler, die wir an unserer Schule fast vier Jahre lang im Ganztag intensiv erlebt haben. Wir haben auch mit deren Eltern intensiv zusammengearbeitet. Das hat beides jäh ein Ende gefunden. Insbesondere die beiden Klassenlehrertandems, die die Jugendlichen seit Klasse fünf begleitet haben, nimmt dies sehr mit. Und genauso natürlich die Mitschülerinnen und Mitschüler.
Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie von der Gewalttat erfahren haben?
Rothämel: Daran werde ich mich wohl mein ganzes Leben erinnern. Wir haben schon sehr früh mitbekommen, dass ein Schüler vermisst wird. Wir hatten hier einen Gala-Abend mit Facharbeitspräsentationen, da stand auf einmal die Polizei in der Tür und fragte, ob der vermisste Schüler sich vielleicht in den Räumen der Schule aufhält. Dann haben wir parallel zur Festveranstaltung die ganze Schule abgesucht. Trotzdem war da gleich die Ahnung, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, weil der Junge sehr zuverlässig war. Als ich dann gehört habe, dass ein Schüler unserer Schule ihn getötet haben sollte, war meine erste Assoziation: "Kain und Abel".
Die beiden Brüder aus der biblischen Geschichte, in der einer den anderen erschlug?
Rothämel: Ja. Denn die Jungen kannten sich schon seit Kindergarten-Zeiten. Sie waren in Parallelklassen, aber sie haben sich auch außerhalb der Schule verabredet.
"Es gab kein für uns wahrnehmbares Mobbing"
Hatten Sie an der Schule Hinweise auf Mobbing?
Rothämel: Wir haben uns das sehr intensiv gefragt. Natürlich ist Mobbing in unterschiedlichsten Formen etwas, worauf wir genau schauen. Aber: Nein. Zwischen diesen beiden gab es kein für uns wahrnehmbares Mobbing. Bis jetzt ist die Frage nach dem Warum für mich und uns als Schulgemeinschaft offen, können wir uns überhaupt nicht vorstellen, weshalb der mutmaßliche Täter so einen Entschluss gefasst hat.
Durch die Anklage wurde auch bekannt, dass der mutmaßliche Täter schon vorher bei Nachbarn Erpresserbriefe in die Briefkästen geworfen hat. Darin hat er den Empfängern gedroht, ihnen etwas anzutun, wenn sie kein Geld für ihn deponieren. Wusste die Schule davon?
Rothämel: Nein, in keiner Weise. Weder durch die Polizei noch durch die Eltern. Erst einige Wochen nach der Tat hat es erste Gerüchte diesbezüglich gegeben. Ich habe dann natürlich nachgefragt. Aber bis jetzt hat es keinerlei offizielle Mitteilung der Polizei an uns gegeben.
Hätten Sie sich gewünscht, dass Sie schon viel früher von diesen Drohbriefen erfahren hätten?
Rothämel: Aus heutiger Sicht natürlich ja. Gedanklich wünschte man sich, es hätte ein Stoppzeichen gegeben, das sich auf den Umgang zwischen den beiden Jungs ausgewirkt hätte, sodass das Opfer möglicherweise besser hätte geschützt werden können.
"Man wünschte sich, es hätte ein Stoppzeichen gegeben"
Glauben Sie, dass Sie dann pädagogisch auf den mutmaßlichen Täter hätten einwirken können?
Rothämel: Das ist schwer zu beantworten. Ich weiß nur eines: Wenn wir von etwas Kenntnis haben, und sei es weniger gravierend, dann schauen wir nicht weg, sondern dann sind wir diejenigen, die konsequent und pädagogisch zum Schutz und zum Wohle aller zu agieren versuchen.
Was war der mutmaßliche Täter für ein Schüler?
Rothämel: Er war immer sehr in sich zurückgezogen. Aber er hatte auch Ideen, er war einfallsreich. Er war ein kluger Schüler. In der letzten Zeit ist er zunehmend unordentlich geworden, aber es gab für uns keine Hinweise, die auch nur annähernd auf das hingedeutet hätten, was er dann mutmaßlich getan hat. Hinterher haben wir erfahren, dass er außerhalb der Schule oft ganz anders war und viel mehr geredet hat.
Der Junge sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Hat die Schule weiterhin Kontakt zu ihm?
Rothämel: Nein. Wir haben durchaus Kontakt zu den Eltern. Aber wir respektieren auch, dass sie momentan einen gewissen Abstand brauchen. Sie werden seelsorgerlich begleitet. Denn auch sie haben ihren Sohn verloren, wie sie ihn vorher kannten.
"Für mich liegt nahe, dass Kinder heute nicht mehr so wie früher Kinder sein können"
Was war das Opfer für ein Mensch?
Rothämel: Er war ganz engagiert in der katholischen Kirchengemeinde. Er war Messdiener und bei den Pfadfindern. Wenn ihm etwas Unangenehmes widerfahren war und er sich zurückgesetzt gefühlt hat, konnte er vergeben und am nächsten Tag wieder freudig und offen auf die anderen Menschen zugehen. An unserer Schule erinnern einige Orte der Stille an ihn. An seinem Lieblingsort in der Bibliothek steht ein Tisch mit seinem Bild. Dort kann jeder hingehen und ihm in Gedanken besonders nah sein.
Haben Sie weiter Kontakt zu den Eltern des Opfers?
Rothämel: Ja. Sie fühlen sich immer noch im Würgegriff der Trauer. Sie wollen verstehen, ohne dass sie es verstehen können. Und andererseits sind sie in der Lage, zu vergeben. Weil sie sagen: Unser Sohn hätte es auch getan. Und: Sie machen sichtbar deutlich, dass sie die Eltern nicht verurteilen. Das ist ein ganz großartiges Zeichen. Denn in unserer Stadt gab es unschöne Kampagnen und unfreundliche Briefe, auch an mich.
Haben Sie als erfahrene Pädagogin eine Erklärung, wo dieses jugendliche Aggressionspotenzial herkommen kann?
Rothämel: Als die Tat geschehen war, sprachen Experten von einer singulären Tat. Aber leider sind inzwischen weitere brutale Morde von Kindern an Kindern geschehen, die teils sogar noch jünger sind als unsere Schüler. Für mich liegt tatsächlich die These nahe, dass Kinder heute nicht mehr so wie wir früher Kinder sein können. Dass sie ungefiltert mit so vielen Bildern von Brutalität in den Medien konfrontiert sind, dass sich die Ungeheuerlichkeit eines solchen Tuns relativiert. In Videospielen oder im Internet ist diese Brutalität zugänglich durch ein paar Klicks. Wir müssen lernen, zum Schutz aller noch einmal aufmerksamer und im Gespräch zu sein.