So langsam wird Jule sauer. Die Zehnjährige strafft ihren Rücken, ihre Augen funkeln. "Nein", ruft sie: "Keinen Schritt weiter!" Milutin Susnica, der eben noch drohend auf das Mädchen zuging, weicht einen Schritt zurück und lächelt. "Super, Jule", lobt er. "Das war deutlich, Du hast mich überzeugt."
Susnica ist Sportlehrer, Karate-Experte und Trainer bei dem Verein "Respect" aus Köln. Der 43-Jährige steht an diesem Morgen in der Sporthalle der Grundschule "Unterm Regenbogen" im Peiner Stadtteil Woltorf und begrüßt die Klasse 4a. Die Kinder kennen Susnica und das "Respect"-Training seit der ersten Klasse. Heute wird das Erlernte aufgefrischt.
Etwa die Stoppregeln. Wer geärgert wird, sagt: "Stopp, hör auf." Nützt das nichts, kommt die nächste Stufe: "Wenn Du nicht aufhörst, hole ich mir Hilfe." Erst wenn das alles nichts bringt, kommt Stopp-Regel drei: "Es reicht, jetzt gehe ich zu meinem Lehrer."
Die Schüler müssten lernen, ihre Konflikte selbst zu lösen und nicht immer gleich zu einer Lehrkraft zu rennen, sagt Susnica. "Es geht darum, Streitereien, wo es geht, zu vermeiden, sich zu einigen, aber auch sich wehren zu können." Wie wichtig diese Fähigkeiten sind, zeigt eine Befragung der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019. 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen erfahren der Studie zufolge in der Schule Ausgrenzung, Hänseleien oder sogar körperliche Gewalt.
Der Verein "Respect" schult seit 2016 bundesweit Grundschüler im wertschätzenden Umgang miteinander, um so frühzeitig Mobbing und Schikane einen Riegel vorzuschieben. Die Kinder sollen lernen, Konflikte friedlich auszutragen, Rücksicht zu nehmen, sich in andere hineinzuversetzen, Impulse wie Wut zu kontrollieren, und auch die Mitschüler, die sie nicht mögen, zu achten.
2022 hat "Respect" nach eigenen Angaben 12.200 Kinder sowie 1.100 Lehrer an 59 Schulen fortgebildet. "Die Nachfrage nimmt zu", sagt Geschäftsführer Jan Lindert. Das läge auch an Corona, denn die sozial-emotionalen Kompetenzen hätten durch den Lockdown gelitten. "Wie sollen Kinder im Homelearning auch den Umgang mit anderen, das Verhalten in einer Gruppe trainieren?"
Dass die Corona-Beschränkungen für junge Menschen herausfordernd waren, dass Frustration zugenommen und soziale Kompetenzen abgenommen haben, weiß auch die Bundesregierung. Sie hat Sondermittel für Kinder und Jugendliche zur Bewältigung der Pandemie-Auswirkungen zur Verfügung gestellt. In Niedersachsen heißt das Aktionsprogramm "Startklar in die Zukunft". Schulen, die das "Respect"-Training oder vergleichbare Programme anbieten wollen, können auf diese Gelder zugreifen.
Das niedersächsische Kultusministerium betont, dass es eine große Anzahl an "Strukturen, Vereinen, Handreichungen, Fortbildungen und Programmen" gäbe, um Mobbing und Gewalt an Schulen einzudämmen. Dazu zählten die Schulsozialarbeit, die Schulpsychologie, Beratungslehrkräfte und das Mobbing-Interventionsteam. Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen für Pädagogen würden von den Schulen "in hohem Maße" angefragt, Beratungs- und Unterstützungsanfragen seitens der Lehrer zunehmen, sagt ein Sprecher.
Mobbing, also systematische, regelmäßig wiederkehrende psychische Gewalt gegen einen Schüler, habe sie an ihrer Schule noch nicht erlebt, sagt Andrea Eisenhardt, die seit 26 Jahren an der Schule "Unterm Regenbogen" tätig ist und sie seit 2011 leitet. Dass das so ist, liege sicher unter anderem auch daran, dass die Grundschule das Sozialtraining fest im Stundenplan verankert hat.
Bereits seit neun Jahren kommen die "Respect"-Trainer nach Peine. Jeder Jahrgang wird trainiert, eine Stunde pro Woche arbeitet darüber hinaus Schulsozialarbeiter Florian Kauschke mit den Kindern, damit sich das Gelernte verfestigt. "Dass wir das schon so lange machen, merkt man den Schülern an", sagt der 50-Jährige. Und auch Sebastian Tanneberger, Klassenlehrer der 4a, ist überzeugt: "Wir haben einen Erziehungsauftrag, und der besteht nicht nur darin, Kindern lesen, schreiben und rechnen beizubringen."