Das Publikum kann sich niemals sicher sein, ob es den Bildern trauen kann: weil sie mitunter nur die halbe Wahrheit offenbaren; oder weil sie eine subjektive Sicht vermitteln, die von der objektiven Realität abweicht. Das ist auch der Kern des fünfzehnten Films, "Die siebte Person", denn die wichtigste Gastfigur, Maja Wiechmann (Friederike Becht), hat eine multiple Persönlichkeit: Sie ist zu sechst; ihr Leben ist einst infolge eines traumatischen Erlebnisses komplett aus der Spur geraten. Von diesem Teil ihrer Biografie ist nur die Rede, gezeigt werden die Ereignisse zum Glück nicht; sie hat das Grausigste erlebt, was Kindern widerfahren kann. Um sich vor den Erinnerungen zu schützen, hat sie einen Teil ihrer Persönlichkeit abgespaltet. Auf diese Weise sind die Geschehnisse in gewisser Weise nicht ihr, sondern jemand anderem zugestoßen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Warum sich zu diesem Teil ihres Selbst noch vier weitere Charaktere gesellt haben, lässt das Drehbuch von Nils-Morten Osburg (Mitarbeit: Produzent Wolfgang Esser) offen, doch in der filmischen Umsetzung ist es natürlich faszinierend, wenn innerhalb einer Szene ein halbes Dutzend verschiedene Mitwirkende ein und dieselbe Figur verkörpern. Darunter ist überraschenderweise auch ein Mann: Philipp Hochmair hat als toxischer "Flüsterer" den gruseligsten Part des Sextetts.
Aber auch die weiteren personifizierten Merkmale sind prägnant besetzt, etwa mit Frida-Lovisa Hamann als Künstlerin, die die restlichen Mitglieder dieser Kopf-WG miteinander versöhnen möchte. Oder Anna Herrmann, die Majas sexuelle Bedürfnisse repräsentiert. Schon das ständige Gewisper genügt, um ihren bedauernswerten Zustand nachvollziehen zu können.
Seinen Titel verdankt der Krimi einer Entwicklung, mit der die Therapeutin (Birge Schade) der jungen Frau nicht gerechnet hat: Als Maja unerwartet mit ihrem Trauma konfrontiert wird, bahnt sich die Entstehung einer weiteren Persönlichkeit an. Zum Krimi wird die Geschichte, weil diese "siebte Person" womöglich einen Mord begangen hat.
Der Film beginnt mit einer Szene, die seine Stimmung treffend vorwegnimmt: Maja stakt mit einen Kahn, in dem drei Frauen, ein Mann und ein Kind sitzen, durch den nächtlichen Spreewald. Die Atmosphäre ist unheimlich, die Stimmung bedrohlich. Als das Boot in der Nähe eines Hauses anlegt, stellt Regisseur Lars-Gunnar Lotz akustische Details in den Vordergrund: Das Quietschen eines Wetterhahns und die typischen Geräusche eines Fahnenmastes lösen in Maja umgehend eine Panikattacke aus. Tags drauf ist das Haus, der Schauplatz ihres Kindheitstraumas, nur noch eine Ruine: "Leid wird zu Flammen, die sich selbst verzehren", zitiert Hauptkommissar Fichte (Thorsten Merten) aus Carl Zuckmayers "Elegie von Abschied und Wiederkehr".
Hauptfigur des Films ist jedoch selbstredend wie eh und je Fichtes ehemaliger Chef, Thorsten Krüger (Christian Redl), den Maja in der Verkleidung einer Spreewald-Sagengestalt aufsucht, um einen Mord anzukündigen. Tatsächlich stirbt wenig später ein Landtagsabgeordneter (Thomas Lawinky), der allerlei krumme Geschäfte zu verantworten hat, und natürlich hängt, wie Fichte irgendwann feststellt, alles mit allem zusammen; aber wie? Und welche Rolle spielt ein junger Mann (Oleg Tikhomirov), der als martialischer Faustkämpfer eingeführt wird und offenbar eine enge Beziehung zu Maja hat?
Lotz gehört zu jenen Regisseuren, deren Namen nicht unbedingt bekannt sein mögen, die aber für hohe Qualität stehen. Zuletzt hat er mit Henry Hübchen den Krimi "Das Licht in einem dunklen Haus" (2022) gedreht, davor "Plötzlich so still" (2021, ebenfalls mit Becht), ein bewegendes Drama über eine junge Mutter, die sich Ersatz für ihr verstorbenes Baby besorgt. Seine Beiträge zu "Stralsund" waren gleichfalls sehenswert (alle ZDF).
Inhaltlicher Knüller seines "Spreewald"-Debüts ist die völlig überraschende Offenbarung der siebten Figur, die durch eine winzige Animation charakterisiert wird. Eindrucksvoller als jene Szene, in der Becht von einer Rolle in die andere schlüpft, ist die Verbildlichung der Identitätsstörung: Schlichte Kameraschwenks genügen, um den Wechsel von einer Persönlichkeit zur nächsten darstellerisch zu verdeutlichen. Sehr sympathisch ist schließlich die Rückkehr früherer Mitwirkender, allen voran Birge Schade, die bereits 2014 in der Episode "Die Tote im Weiher" mitgespielt hat.