Der Handlungskern dieses Films ist so schlicht wie der Titel: Ein erfahrener Polizist wird durch einen Verkehrsunfall, bei dem eine komplette Familie stirbt, völlig aus der Bahn geworfen. Tatsächlich bietet die Geschichte im Grunde kaum Stoff für neunzig Minuten; hätte Elke Hauck (Buch und Regie) zum Beispiel auf die vielen Motorradfahrten der Hauptfigur verzichtet, wäre "Gefangen" deutlich kürzer geworden.
Dass das bedächtig inszenierte Drama (Erstausstrahlung war 2021) trotzdem fesselt, liegt einzig und allein an Wolfram Koch: Harry war früher beim Staatsschutz und beim SEK, nun ist er Streifenpolizist irgendwo in der brandenburgischen Provinz. Das ist zwar ein eher ungewöhnlicher Karriereverlauf, aber offenbar genießt er die Ruhe seines beschaulichen beruflichen Daseins.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Hauck führt ihren Helden bei einer nächtlichen Verkehrskontrolle ein: Harry hört Rockmusik und hat gute Laune. Deshalb lässt er bei Ronald Schneider (Godehard Giese), der während des Fahrens mit seiner Frau telefoniert hat, großzügig Gnade vor Recht ergehen, und gibt ihm noch den Rat mit auf den Weg, der Gattin Blumen mitzubringen.
Harry ist offenkundig mit sich und der Welt im Reinen. Die Kollegen mögen ihn, seine Frau Ellen (Antje Traue) erwartet ein Baby; aus erster Ehe hat er einen erwachsenen Sohn und eine Teenagertochter. Am Tag nach der Kontrolle wird er auf dem Weg zur Arbeit Zeuge eines Verkehrsunfalls. Bestürzt stellt er fest, dass es sich um Schneider und dessen Familie handelt; er kann den Mann, seine Frau und die beiden kleinen Töchter nur noch tot aus dem Autowrack bergen.
Während sein Partner (Sebastian Schwarz) tief betroffen ist, beteuert Harry, der vermutlich schon Einiges erlebt hat, sowohl gegenüber seiner Vorgesetzten (Anna Böger) wie auch im kurzen Gespräch mit der Polizeipsychologin, es sei alles in Ordnung; in Wirklichkeit gerät er unmerklich mehr und mehr auf eine schiefe Ebene.
Geschickt lässt Hauck, die mit "Gefangen" nach zwei Kinoarbeiten ihren ersten Fernsehfilm gedreht hat, zu Beginn offen, wohin sich die Geschichte entwickeln wird. Zum Auftakt ist vom Krimi über die Komödie bis zum Drama alles möglich. Nach dem Unfall kommt eine Komödie selbstredend nicht mehr in frage, aber der Film lässt sich ähnlich wie die Hauptfigur auch weiterhin nicht festlegen.
Harry gibt sich nach wie vor entspannt, beginnt aber, seltsame Dinge zu tun. Das Haus der Schneiders scheint eine geradezu magische Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Als ihm Jugendliche die Kleider klauen, während er in einem nahegelegenen See schwimmt, borgt er sich Sachen von Ronald. Später legt er sich zu Monika Schneider (Susanne Wuest) ins Bett, nachdem er nach den schlafenden Kindern gesehen hat.
In diesen Momenten könnte "Gefangen" auch zum Horrorfilm werden; tatsächlich gibt es kleine Mystery-Elemente, die schließlich im Besuch eines Wolfs gipfeln. Optisch wirkungsvoller ist jedoch eine andere Szene: Ellen findet den Ausdruck einer Internet-Annonce für das Schneider-Haus. Als die Kamera näher an das langsam lebendig werdende Foto heranfährt, entdeckt sie ihren Mann, der im ersten Stock aus dem Fenster schaut; ein Effekt, der bereits in Hartmut Schoens Spielfilmregiedebüt "Der letzte Gast" (1989) für Gänsehaut gesorgt hat.
Hauck begründet Harrys Verhalten mit der Umbruchsituation, in der sich der Polizist befinde: Der Neuanfang mit deutlich jüngerer Frau und einem weiteren Kind habe eine tiefe Verunsicherung zur Folge. Das klingt zwar plausibel, aber es gibt eine bessere Erklärung. Letztlich dreht sich "Gefangen" um ein Phänomen, das die meisten Menschen schon mal erlebt haben: Man steht an einer Klippe, auf einer Brücke oder am Rand eines Dachs und verspürt den völlig irrationalen Impuls, sich fallen zu lassen.
"Call of the void", Ruf der Leere, wird die seltsame Anziehungskraft des Abgrunds im Englischen genannt. Kochs vielschichtiges Spiel ist die perfekte Verkörperung dieser Form von Todessehnsucht, die nichts mit Lebensmüdigkeit zu tun hat. Sie resultiert aus einer Art Übersprunghandlung des Gehirns, das mit der kognitiven Dissonanz zwischen offenkundiger Gefahr und vermeintlich trügerischer Sicherheit klarkommen muss. Deshalb fühlt sich Harry auf einmal fremd im eigenen Leben, obwohl es dafür gerade auch angesichts der vertrauensvollen Haltung seiner Frau überhaupt keinen Grund gibt. Als Ellens Zuversicht jedoch zu bröckeln beginnt, entwickelt sich der Film scheinbar unaufhaltsam in Richtung eines erweiterten Suizids.