Als "Bilanz des Schreckens" haben die zuständigen Anwälte ihr Gutachten zu Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising präsentiert. Es hätten sich Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt gefunden, teilte die Rechtsanwälte der Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" am Donnerstag bei der Präsentation des Gutachtens mit. 247 Opfer seien männlich und 182 Opfer weiblich gewesen. Bei 68 Fällen sei eine Zuordnung wegen der Anonymität der Hinweise nicht möglich gewesen, sagte Rechtsanwalt Martin Pusch.
60 Prozent der betroffenen Jungen waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Damit bestätige sich, dass die Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen seien. Pusch betonte, die Zahlen deckten nur das sogenannte Hellfeld ab. Die Kanzlei geht von einem weitaus größeren Dunkelfeld aus. Gegenstand der Untersuchungen seien mit Blick auf die Täter insgesamt 261 Personen gewesen, bei 235 hätten sich die Hinweise auf "untersuchungsgegenständliche Verhaltensweisen" ergeben. Von ihnen seien 173 Priester gewesen.
Auch enthalten im Gutachten ist ein 370-seitiger Sonderband über die Rolle des früheren Papstes Benedikt XVI. während seiner Zeit als Münchner Erzbischof (1977-1982). Nach einer anfänglichen Abwehrhaltung habe Joseph Ratzinger - so Benedikts bürgerlicher Name - die Fragen der Gutachter beantwortet und so einen authentischen Einblick in seine persönliche Verantwortlichkeit gegeben, sagte Rechtsanwalt Pusch. In vier Fällen seien Ratzinger Fehlverhalten vorzuwerfen. Zwei Fälle betreffen von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter, die als Priester weiter in der Seelsorge tätig sein durften.
In einem weiteren Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erzbistums übernommen worden sein, obwohl er im Ausland als Missbrauchstäter verurteilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Joseph Ratzinger von der Vorgeschichte des Priesters gewusst habe, sagte Pusch. Benedikt XVI. bestreite den Vorwurf des Fehlverhaltens in allen Fällen. Rechtsanwalt Wastl ging dann konkret auf den wohl bekanntesten Fall während Ratzingers Amtszeit ein - dem eines Priesters aus dem Bistum Essen, der 1980 trotz des bekannten sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen ins Erzbistum München und Freising wechseln durfte.
Lange habe es die Mär gegeben, dass es nach dem Missbrauchsvorfall in seinem Heimatbistum keine weiteren Fälle gegeben habe, sagte Wastl. Die Gutachter hätten nun Hinweise gefunden, dass es nach der Übernahme des Priesters weitere Taten gegeben habe. Die Gutachter hätten dazu mit weiteren Opfern gesprochen. Die Gutachter machten deutlich, dass sie nicht allen Angaben Ratzingers - wie etwa, er sei bei entscheidenden Sitzungen nicht anwesend gewesen oder habe vom Sachverhalt nichts gewusst - Glauben schenkten. Dabei beriefen sie sich auf die Aktenlage. Wastl bezeichnete Ratzingers ausführliche Stellungnahme, die er den Gutachtern am 14. Dezember 2021 zuschickte, als "absoluten Durchbruch" für das Missbrauchsgutachten.
Dem amtierenden Erzbischof Reinhard Marx bescheinigten die Gutachter eine "grundsätzliche Offenheit" bei der Thematik des sexuellen Missbrauchs. Aber er habe sich auch darauf beschränkt, die ihm von seiner Verwaltung vorgeschlagenen Maßnahmen durchzusetzen, kritisierte Pusch. Die Verantwortung dürfe bei solch einer Thematik aber nicht an Untergeordnete abgeschoben werden, dies sei "Chefsache". Rechtsanwältin Marion Westpfahl kritisierte zudem, dass Marx nicht persönlich zu der Präsentation erschienen war. Dieser hätte sich unmittelbar und für die Öffentlichkeit wahrnehmbar mit den Ergebnissen konfrontieren lassen müssen. Marx ließ bereits am Mittwoch mitteilen, dass er sich erst in einem Statement am Nachmittag äußern werde.
Westpfahl wandte sich darüber hinaus mit deutlichen Worten an die katholische Kirche: Bei dem Gutachten sei darum gegangen sei, das "erschreckende Phänomen der Vertuschung" zu beleuchten: "Vertuschung ist Verrat an den Grundlagen christlichen Glaubens." Der katholischen Kirche werde mit dem Gutachten nun die Chance eröffnet, den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und einen Prozess der Selbstreinigung in Angriff zu nehmen. Das Gutachten beschäftigte sich mit Fällen sexuellen Missbrauchs zwischen den Jahren 1945 und 2019.