Dietrich Bonhoeffer ist der bekannteste evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts. Was macht ihn so besonders?
Wolfgang Huber: In meinen Augen ist der Hauptgrund, dass wir bei ihm in einer ungewöhnlichen Weise eine Einheit von Leben und Glauben und von Lebensgeschichte und Theologie vor uns haben. Er ist bekannt als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Er ist anerkannt als Märtyrer, der um seines Glaubens und seiner Gewissensüberzeugung willen gestorben ist. Und er ist bekannt als einer, der zur Zivilcourage ermutigt und befähigt. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen auch in schwieriger Situation sich an ihn gehalten haben und auch heute an ihm orientieren.
Sie haben einmal gesagt, Bonhoeffer sei eine Art evangelischer Heiliger. Dafür gab es viel Kritik. Stehen Sie noch dazu?
Huber: Ja, ich bleibe grundsätzlich dabei. Ich muss aber zugeben, dass es im evangelischen Bereich nicht durchsetzbar ist, ein Verständnis von Heiligen zu entwickeln, wie es dem evangelischen Bekenntnis entspricht. Im evangelischen Verständnis ist ein Heiliger derjenige, der für uns zum Vorbild im Glauben werden kann. Nur in diesem Sinn habe ich von Bonhoeffer als einem evangelischen Heiligen gesprochen.
Ihr Buch über Bonhoeffer trägt den Titel "Auf dem Weg zur Freiheit". Ist Freiheit aus Ihrer Sicht das zentrale Thema von Bonhoeffer?
Huber: Es ist jedenfalls ein ganz zentrales Thema. Der Titel ist ein Zitat, nämlich die Überschrift eines Gedichtes aus seiner Gefängniszeit. Und seine Ethik macht ganz klar, dass die Zusammengehörigkeit von Bindung und Freiheit für ihn das Wesen der christlichen Existenz ausmacht.
Ist Bonhoeffer ein Liberaler?
Huber: Nicht in dem Sinn, in dem wir heute den Liberalen verstehen. Bonhoeffer war zunächst kein in der Wolle gefärbter Demokrat. Er ist noch in der Zeit des Kaiserreichs geboren und aufgewachsen. Er hat die Zeit der Weimarer Republik mit all ihren Abgründen erlebt. Und er war dann ein Opfer einer Diktatur. Eine gefestigte Beheimatung in der liberalen Demokratie war nicht die Wirklichkeit, in der er aufwuchs und lebte. Und er war auch kein Liberaler in dem Sinn der Freizügigkeit, der Distanz zu allen Regeln. Seine Auffassung war, dass Menschen Regeln, Prinzipien, klare Grundorientierungen brauchen, aber dass sie diese Orientierungen aus eigener menschlicher Freiheit wählen und bejahen. Insofern war er nah an einem Begriff von Liberalität im Sinn der menschlichen Autonomie.
Heute beschäftigen uns wie zu Bonhoeffers Zeiten wieder verstärkt Judenhass und Antisemitismus. War Bonhoeffer immun gegen Antisemitismus?
Huber: Ja, das kann man eindeutig feststellen. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, in der Menschen jüdischer Herkunft für ihn selbstverständlich Freunde, Partner, Glieder befreundeter Familien waren. Er war von Anfang an immun gegen den Rassen-Antisemitismus der NSDAP. Das ging so weit, dass er im Jahr 1933 der erste war, der die ganz frühen Maßnahmen des Hitler-Regimes gegen die Juden bereits als ein Thema des Glaubens und des Gewissens verstand und von seiner Kirche erwartete, dass sie dazu vom ersten Augenblick an ganz klar Stellung nahm. Leider wurden seine Erwartungen bereits im Jahr 1933 enttäuscht.
Kritiker beobachten zurzeit, dass rechtspopulistische Kreise und Politiker den deutschen Widerstand und auch Bonhoeffer für ihre Zwecke in Anspruch nehmen: Der Widerstand gegen die NS-Diktatur werde bisweilen mit deren eigener Rolle in der heutigen Gesellschaft verglichen. Wie beurteilen Sie das?
Huber: Falls jemand die eigene Rolle heute mit dem Widerstand gegen die NS-Diktatur vergleicht, hat er den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur nicht verstanden. Er missbraucht die Autorität Bonhoeffers für Zwecke, die mit dessen Leben und Theologie nichts zu tun haben. Denn Bonhoeffer hat sich für die Würde und die gleichen Rechte aller Menschen eingesetzt. Er hat dem Antisemitismus widerstanden und dabei hervorgehoben, dass Jesus Jude war. Jede Art von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit lag ihm völlig fern.
Was ist aus Ihrer Sicht die Botschaft Bonhoeffers für uns heute?
Huber: Die Botschaft heißt: Nimm selber deine Verantwortung aus Glauben wahr. Verstecke dich nicht hinter anderen Autoritäten. Nimm die Situation genau wahr und vertraue darauf, dass das Gebot der Liebe zu Gott, zum Nächsten dir zeigen wird, welchen Weg du gehen sollst.