Thomas Zemmrich ist Stadtführer in Leipzig. Eine seiner Touren geht den Spuren der friedlichen Revolution von 1989 nach. Als er zur Nikolaikirche kommt, erzählt er seinen Schülern, wie vor 30 Jahren von diesem Ort der Funke für die friedliche Revolution in die restliche DDR übersprang und einen Flächenbrand auszulösen begann – und mit der Montagsdemo der Anfang vom Ende des Honecker-Staates einläutete.
Er zeigt den Schülern in einem Seitentrakt der Nikolaikirche eine Aussstellung, die darüber informiert, wie dieser Prozess begann: Mit dem ersten Friedensgebet am 20. Septemer 1982 in dieser Kirche. Thomas Zemmrich, der aus einem sozialistichen Elternhaus stammt, sagt: "Dieses Datum berührt mich immer noch."
So geht es vielen in der Nikolai-Gemeinde. Und dennoch: Keiner will hier in Revolutions-Nostalgie verharren. Auch die Gemeindepädagogin Christiane Heinrich nicht, die in einem Raum am Nikolaikirchhof 3 gerade über Unterlagen sitzt. Sie kann auf ein bewegtes Leben zurück sehen: Als Pfarrerskind durfte sie kein Abitur machen und nicht studieren. Nach 1990 arbeitete sie als Physiotherapeutin. Nebenberuflich fand sie zur Gemeinepädagogik. "Ich bin sehr glücklich, dass ich in dieser Gemeinde arbeiten darf. Es ist eine große Ehre", sagt Christiane Heinrich. Die agil wirkende Frau hat in der Nikolaikirche Zeiten erlebt, als hier weniger los war als heute. "Das Gemeindeleben hat sich in den vergangenen zehn Jahren wieder stabilisiert", sagt sie. Die Aufbauarbeit zeige jetzt Früchte.
Die Nikolaikirche hat sich verjüngt. Das merkt man, wenn man sich im Gebäude am Nikolaikirchhof 3 umsieht. Dort findet das wöchentliche Kinderangebot statt. Es gibt einen Krabbelkreis und einen Kreis für Vorschulkinder. Kinder singen und spielen miteinander oder sehen sich Geschichten in der Bibel an. "Es gibt in der Gemeinde auch viele Extra-Angebote wie Kindermusical-Aufführungen", sagt Christiane Heinrich. Jeden Sonntag gibt es eine Kindergottesdienstgruppe. Nach mageren Jahren gebe es auch wieder eine "ordentliche Gruppe Konfirmanden". Zudem gebe es Kreise für Leute in der Lebensmitte und für Senioren. Das Kirchenkaffee, der Büchertisch und die Turmführungen werden von ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt.
Zur Nikolaikriche gehört eine zweite Gemeinde, die nach der Strukturreform 2014 hinzugekommmen ist: Die Kirche "Zum heiligen Kreuz" im Stadtteil Neustadt-Neuschönefeld. Dort hat sich die Bevölkerung nach der friedlichen Reolution stark verändert. Heute wohnen dort viele Araber und Türken. "Die Deutschen, die noch dort wohnen, leben bewusst dort, weil sie dieses Miteinander der Kulturen wollen", sagt Christiane Heinrich. In dieser Gemeinde, die unterschiedlicher als die Nikolaikirche nicht sein könne, gebe es ebenfalls wöchentliche Angebote für alle Altergrupppen. Für die Leipzigerin ist das Pendeln zwischen diesen verschiedenen Kirchen kein Widerspruch: "Diese Offenheit und Tolernz, die wir für diese Leute in diesem Stadtteil benötigen, passt für mich ganz gut zum Erbe der friedlichen Revolution."
Das Erbe der friedlichen Revolution von 1989 lebt auch und vorallem in den Friedensgebeten weiter, die hier jeden Montag um 17 Uhr stattfinden. Die Besucher strömen an diesem Tag schon eine halbe Stunde vorher zur Tür, um sich einen guten Platz zu sichern. Fotografieren ist verboten, um "die intime Gebetsatmosphäre nicht zu stören", wie der Küster mit strenger Miene sagt. Selfie-Sticks sammelt er gleich ein. Christiane Heinrich tritt in den Mittelgang, als die ersten Kerzen vorne angezündet werden. Vorne im Bank sieht sie eine Gruppe Eritreer in festlichen weißen Gewändern. Sie gestalten an diesem Montag mit Trommeln, rituellen Gesängen und Gebeten das Friedensgebet.
Under den Leuten, die wegen des heutigen Themas hier sind, entdeckt Christiane Heinricht auch Gemeindeglieder, die seit den frühen 80er-Jahren fast ständig hier sind. Das seien nicht viele, aber dennoch um die 40 Leute, wie sie sagt. Im Laufe der Zeit haben sich die Themen der Friedensgebete verändert: Ging es früher um den Irak-Krieg oder Harz 4, stehen heute Themen wie Klima-Erwärmung oder Pegida auf der Agenda. Christiane Heinrich erinnert sich an ein Friedensgebet, als in Leipzig die Legida vor der Gründung stand: "Universität und Kirche habe sich hier zusammen geschlossen und sagten: Wir lassen nicht zu, dass diese Leute die Strassen dominieren."
In der Bücherecke in der Kirche werden nach dem Friedensgebet Postkarten verkauft von der Nikolaikirche und von Motiven der Herbstrevolution 1989. Immer wieder, weiss die Verkäuferin, schreiben hier Menschen tief berührt von ihrem Besuch an diesem Ort.
Die Bänke der Nikolaikirche sind nicht nur während den Friedensgebeten montags gut gefüllt. Auch unter der Woche geht die Kirchenpfort auf und zu. Es herrscht viel Betrieb. Die einen wollen beten, singen oder schweigen. Andere zu Johann Sebastian Bach.
Einer, der hier oft Leute begrüsst, ist Martin Henker, seit 2004 Superintendent in Leipzig. Der wortgewandte Mann fühlt sich wohl in der pulsierenden Universitätsstadt Leipzig mit dem ständigen Zustrom von jungern Studenten. Nicht wenige unter ihnen führt es in diese Kirche. "Die Gemeinde ist zahlenmäßig deutlich gewachsen", sagt Martin Henker. Leipzig boomt. In immer neuen Wellen werden ganze Quartiere neu geschaffen, wo sich junge Familien niederlassen. Darunter, weiß Martin Henker, seien auch evangelische Christen, die Anschluss suchen bei Gemeinden.
Offen für Suchende
Martin Henker weiß: Es gibt auch hier viele Leute, die "Church-Hopping" betreiben. Leute, die auf der Suche sind nach einer Gemeinde, wo sie sich angesprochen fühlen. Genau das sei der Grund, warum Freiwillige hier jeden Sonntag das Kirchencafé anbieten. Es gbe eine ganze Reie von Leuten aus der Gemeinde, die es als Aufgabe betrachten, Gäste dort anzusprechen. "Da sind oft Touristen aus aller Welt, aber es sind immer wieder auch Familien und junge Erwachsene dabei. Wenn sie sich eingeladen fühlen in St. Nikolai, kann es sein, dass sie wieder vorbei kommen."
Auch an diesem Morgen, als Martin Henker an seinem Arbeitsort vorbei ankommt, sieht er dieses Schild: "Nikolaikirche – offen für alle". Er sieht Thomas Zemmrich vor ihm stehen, der gerade einer Touristengruppe erklärt, was es damit auf sich hat. Heute, sagt er lachend, würde man eine teure PR-Agentur anstellen, und einen solch passenden Satz kreieren zu lassen. Das benötigte St. Nikolai nicht. "Dieser Satz kam aus dem Leben., von der Strasse", sagt Thomas Zemmrich. Wer sich hier umhört stellt fest: Diese Kirche ist eine Bürgerkirche, wo die Ansätze der Wende-Zeit bis heute Gültigkeit haben. Sie geht auf die Strasse, mischt sich ein und bietet gleichzeitig denen, die Heimat in einer Kirche suchen, einen Platz. Es sei, sagt Martin Henker, ein unglaubliches Geschenk, dass diese Kirche durch die Friedensgebete und die friedliche Revoution eine grossartige Tradition und Geschichte erhalten habe. Man möchte jedoch auf keinen Fall ein "Museum mit Revolutionstouristen" werden. Der Superitentent betont: "Wir sind eine lebendige Gemeinde. Eine, die im Heute lebt."
Christiane Heinrich gibt sich optimistisch. Sie glaubt, dass dort, wo Menschen von innen heraus das Evangelium aufgenommen haben, immer wieder neue, frische Ideen kommen. Die beiden Mitarbeiter von St. Nikolai wissen: Die Anfänge der friedlichen Revolution waren klein wie ein Senfkorn. Auch heute kann aus etwas Unscheinbarem etwas Großes wachsen.