Herr Bretschneider, Sie sind einer der führenden Vertreter der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR. Wie sind Sie zu diesem Engagement gekommen?
Harald Bretschneider: Am 13. Februar 1945 hat mich meine Mutter aus einem zerbombten Haus gezogen. Ich erinnere mich nicht mehr an Details. Der brennende Himmel über Dresden und der flüssige Asphalt auf den Straßen sind aber immer noch in meinem Kopf. Bis heute laufe ich weg, wenn meine Frau Lagerfeuer macht. Die Erfahrung, dass ich gerettet worden bin, während 25.000 Menschen umkamen, hat mich lange beschäftigt. Ich verstand es nicht.
Hat sich das irgendwann geändert?
Bretschneider: Ja, als ich zum Landesjugendpfarrer berufen wurde. Ich wurde mit der Situation der Jugendlichen konfrontiert. Sie spürten, dass sie die Soldaten sind, die im Ernstfall mit ihrem Leben bezahlen. Die totale Militarisierung in der DDR und in Europa veranlasste sie, existenzielle Beratung in Wehrdienstfragen zu suchen. Das hat mich ganz maßgeblich motiviert, ich habe sehr genau zugehört. Ich war gefordert und wusste plötzlich, warum ich gerettet wurde.
Wie viele Kriegsdienstverweigerer gab es in der DDR?
Bretschneider: Zwischen 1964 bis 1989 haben rund 25.000 junge Männer den Dienst mit der Waffe verweigert. Etwa 12.000 wurden als Bausoldaten eingezogen. Rund 7.000 Totalverweigerer wurden eingesperrt.
Sie sind Initiator der kirchlichen Friedensdekade. Wie kam es dazu?
Bretschneider: Die biblische Geschichte vom Propheten Micha hat mich inspiriert. Dort heißt es unter anderem: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Spieße zu Sicheln machen'. Im Gegensatz zur DDR, die außenpolitisch ihren Friedenswillen lautstark vermarktete und innenpolitisch die Kritik an der Militarisierung verschwieg, tut in dieser biblischen Geschichte der König Buße. Deshalb habe ich die Friedensdekade mit dem Bußgedanken verbunden und den Bußtag integriert. Es sollte die Schuld nicht auf die anderen geschoben werden. Jugendliche nahmen das biblische Wort ernst. Bis heute dauert die kirchliche Friedensdekade vom Volkstrauertag bis zum Bußtag, also zehn Tage.
"Das Symbol hat immer mehr Leute inspiriert. Es war eine Initialzündung"
Sie haben nach einem Symbol für die Friedensarbeit gesucht und als Vorlage die Bronze-Skulptur des sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch genutzt. Wieso?
Bretschneider: Ich spürte, dass Jugendliche Zeichen brauchen, mit denen sie sich zu erkennen geben und mit denen sie ihre Position artikulieren. Das Denkmal des sowjetischen Bildhauers bezieht sich auf das biblische Wort des Propheten Micha. Es steht in New York und in Moskau. Ich entwarf ein Lesezeichen mit der Skulptur und ließ ein Jahr später Tausende Aufnäher auf Fließ drucken. Das war Textiloberflächenveredelung und bedurfte keiner Druckgenehmigung.
Wie wurde das Symbol aufgenommen?
Bretschneider: Das hat tatsächlich so gewirkt, dass ich selber richtig erstaunt war. Das Symbol hat immer mehr Leute inspiriert. Es war eine Initialzündung. Theologen wie Rainer Eppelmann, Christoph Wonneberger und Friedrich Schorlemmer haben es später auch aufgegriffen.
Wie groß war der kirchliche Einfluss auf die friedliche Revolution?
Bretschneider: Die friedliche Revolution ist maßgeblich von Menschen mitgeprägt worden, die aus dem Glauben heraus den Mut zur Zivilcourage hatten. Kirche ist nicht nur eine Institution, sondern zu ihr gehören einzelne Christen. Jugendliche haben das Bibelwort verbunden mit dem Zeichen des Bildhauers (ein Mann, der ein Schwert zu einem Pflug schmiedet, d.R.) in die Schulen getragen. Sie haben faktisch das Friedenszeugnis der Bibel wie zu Zeiten der Reformation unter die Leute gebracht. Sie waren bereit, dafür zu leiden, denn ihnen wurden Konsequenzen angedroht - das berührt mich bis zum heutigen Tag. Sie haben dem christlichen Friedenszeugnis Hände und Füße gegeben. Es war kein Zeichen, dass sie gerade mal eben mochten, sondern etwas, was sie mit ihrer Existenz vertraten.
Wie kommt es dann, dass in Dokumentationen und Rückblicken zum 30. Jahrestag die Kirchen oft gar nicht oder nur am Rande vorkommen?
Bretschneider: Ich kann nicht verstehen, dass die christlichen Impulse heute zum Teil bestritten werden. Zum Beispiel haben das Forum Frieden für die Jugend 1982 in der Dresdner Kreuzkirche, die Bluesmessen in Berlin, Künstler und Verantwortliche das Schwerter-Symbol und biblisches Wort aufgenommen und es hat seine Wirkung gezeigt. Die friedliche Revolution ist nicht vom Himmel gefallen, sie hatte einen langen Vorlauf. Der Mut zur Zivilcourage ist aus dem christlichen Glauben gewachsen. 'Schwerter zu Pflugscharen' ist das Bibelwort, das die Diktatur ins Wanken brachte.
Warum war die Revolution aus ihrer Sicht erfolgreich?
Bretschneider: Durch das wunderbare Zusammentreffen der geschichtlichen Ereignisse gab es Chancen zur Veränderung. Dazu zählen unter anderem die Entwicklungen in Polen, die wirtschaftliche Katastrophe der DDR, der Mut der Bürger, die Wirkung der Ausreisewilligen, die Öffnung der Grenzen in Tschechien und Ungarn und das Geschick der damaligen Bundesregierung. Dazu gehört aber auch, dass verantwortliche Kommunisten sich eingelassen haben auf den Dialog. Der Erfolg und die Kraft der friedlichen Revolution liegt darin, dass alles zusammen zur richtigen Zeit zum Tragen gekommen ist. Für mich persönlich ist es ein "Geschenk, des Himmels". Gott sei Dank haben wir das Zeitfenster, das uns gegeben war, genutzt und versucht, daraus etwas zu machen.
Sie wurden von der Stasi bespitzelt. Wie wirkte sich das aus?
Bretschneider: Ich wurde intensiv bespitzelt, ja. Das ging über mehrere Jahre. Es fing 1960 an und hatte den Höhepunkt in der Zeit, als ich Landesjugendpfarrer war. Es gab heimliche und sichtbare Bespitzelung, so stand ein Polizeiposten vor unserem Haus oder meine Frau bekam Briefe mit anzüglichen Bildern. Das ging bis in den persönlichen und intimsten Bereich. Das Schlafzimmer war komplett verwanzt, wie sich herausstellte. Als ich 1981 die ?Schwerter zu Pflugscharen?- Aufnäher in Herrnhut abgeholt habe, um sie in Berlin auch an andere Landeskirchen zu verteilen, fiel vor meinem Auto plötzlich ein Baum um. Ich konnte bremsen und als ich mein Dankgebet gesprochen hatte und den Baum wegräumen wollte, sah ich deutlich, dass er angesägt war.
Sind Sie zufrieden mit der Entwicklung, die das vereinte Deutschland genommen hat?
Bretschneider: Zunächst einmal ist zu sagen: Gott sei Dank für das Wunder der Freiheit und der Einheit. Ich bin nach wie vor der tiefen Überzeugung, dass es sich lohnt und notwendig ist für diese Ereignisse diesen Dank auszusprechen. Es war ein Zeitfenster, in dem die friedliche Revolution möglich war. Es ist erstaunlich, was diejenigen, die an den Runden Tischen und in den Parlamenten gesessen haben, aus der Geschichte gemacht haben. Gut, dass evangelische Schulen und Kindergärten eröffnet wurden und werden. Leider gibt es auch Murren und Meckern. Da sind die Verletzungen in vielen Menschen, die arbeitslos geworden sind oder deren Biografie verteufelt wurde. Verluste wurden zu wenig politisch und zu wenig kirchlich wahrgenommen.
Was wäre denn der Weg, die Leute wieder mit ins Boot zu bekommen?
Bretschneider: Wir sollten uns erinnern, dass es der Dialog es war, der an den Runden Tischen zu einer völligen Veränderung der Gesellschaftsordnung geführt hat. Auch heute ist das Gespräch mit den Menschen zwingend notwendig. Wir müssen Kirche in der Mitte der Gesellschaft sein.