Die Vorfreude auf das "Lichtfest" am morgigen Mittwoch (9. Oktober) ist bei vielen Leipzigern zu spüren. So auch bei Bernhard Stief. Auf seinem Bürotisch im Predigerhaus am Nikolaikirchhof liegt der Flyer mit der Aufschrift: "Lichtfest Leipzig. 35 Jahre Friedliche Revolution". Künstler aus aller Welt sind eingeladen, an verschiedenen Orten ihre Lichtinstallationen zum Thema zu zeigen. Er betont: "Das Fest erinnert daran, dass diese Revolution gewaltfrei war. Und das hat viel mit den Friedensgebeten in der Nikolaikirche zu tun."
Wie in den vergangenen Jahren werden wohl auch diesmal wieder viele junge Leute dabei sein, die nach 1989 geboren sind. Das wundert Bernhard Stief gerade in diesen Tagen nicht. Er sagt: "Demokratie und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Sie müssen immer wieder neu erkämpft werden."
Vom Pfarrbüro kann Bernhard Stief auf den Nikolaikirchhof blicken. Dieser schöne Platz wird heute von jungen Studenten und Schülergruppen bevölkert, die dort im Abendlicht ihren Latte Macchiato trinken. In einer Ausstellung im Seitenflügel der Nikolaikirche werden sie gleich erfahren, wie von hier mit den "Montagsdemos" die Herbstrevolution in Gang "getreten" wurde, die im Mauerfall mündete.
Die Wochen vor dem Mauerfall erlebte Bernhard Stief nicht in Leipzig, sondern in Bitterfeld. Er erinnert sich lebhaft: "Am 2. November 1989 bin ich als Bausoldat eingezogen worden und musste zu einem Chemiebetrieb nach Bitterfeld. Sie wollten die Leute von der Straße weghaben. Die Kasernen waren total überfüllt." Auch in Bitterfeld habe er hautnah miterleben können, wie der SED-Staat kollabiert sei: "Der Machtapparat der DDR, der militärisch so hoch gerüstet war, ist in sich zusammengebrochen."
Das Herzstück: Die Friedensgebete
Wer Leipzig immer wieder besucht, ist oft erstaunt: Die Innenstadt mag sich ständig verändern, aber immer noch steht fast quer auf dem Bürgersteig ein Schild mit dem Satz: "Nikolaikirche - offen für alle". Kenner wissen, dass damit nicht der offene Geist gemeint ist, sondern vor allem die Friedensgebete, die durch die Wende 1989 weltberühmt wurden. Noch heute erinnern sich viele Leipziger an das Friedensgebet vom 9. Oktober 1989, bei dem sich die Gemeinde anschließend der Menge auf dem Leipziger Ring anschloss.
Pünktlich um 17 Uhr beginnt es auch heute noch. "Seit 1982 wird es wöchentlich von wechselnden Gruppen vorbereitet und durchgeführt", sagt Bernhard Stief und wundert sich selbst. Nie seien dieselben Menschen hier. Eine bunte Mischung kommt auch an diesem Tag zusammen: Schülergruppen aus Westdeutschland, Touristen aus Frankreich und ein amerikanischer Journalist sowie Gemeindemitglieder sind da. Immer wieder kann Bernhard Stief aber auch Menschen auf den Bänken begrüßen, die das Friedensgebet von der ersten Stunde an kennen. Dieses Gebet sei nach wie vor sehr vielfältig: "Es geht dabei nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um den inneren Frieden."
"Brandaktuelles Symbol"
Im Inneren der Kirche fällt der Blick auch auf das Plakat mit dem Motiv "Schwerter zu Pflugscharen". Noch so ein Relikt aus den 80er Jahren, denkt man zunächst. Doch es ist, wie Stief sagt, "brandaktuell". Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine sorgt der Spruch wieder für Zündstoff. "Wenn es um das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und um Waffenlieferungen geht, gehen die Diskussionen in der pazifistisch geprägten Gemeinde hin und her", sagt Stief. Wichtig sei, dass es gelinge, die verschiedenen Strömungen in der Friedensbewegung zu moderieren und aufeinander zu hören. Dass dies immer wieder neu gelingt, sieht er auch als wesentlicher Teil des Erbes der Revolution von 1989 an.
Die politische Landkarte hat sich durch den Vormarsch der AfD auch in Leipzig verändert. "Das ist die Realität", sagt Bernhard Stief. Er ist aber froh, dass "Leipzig immer noch eine sehr gemischte Stadt ist". Die hohen Wahlerfolge der AfD, sagt Stief, beschäftigen ihn und seine Stadtverwaltung sehr. "Das macht uns schon Sorgen", betont er. Auch in der Nikolaikirchengemeinde gebe es AfD-Wähler. "Das ist eine Realität, mit der wir umgehen müssen." Ihn treibt die Sorge um, dass es immer schwieriger wird, die Abgehängten in den Problemvierteln Leipzigs zu erreichen, die oft AfD-Wähler sind. "Wie wir das schaffen, darauf habe ich noch keine Antwort", gibt er ehrlich zu.
Auf dem Leipziger Ring, nur wenige Gehminuten von der Nikolaikirche entfernt, wird noch immer jeden Montag demonstriert. "Aber die Gruppe, die heute dort die Montagsdemonstrationen durchführt, hat mit den Ursprüngen dieser Demonstrationen nichts mehr zu tun", sagt Bernhard Stief. Man spürt seinen Unmut, wenn er fragt: "Wer läuft denn heute um den Ring? Es gab schon Demonstrationen von Corona-Leugnern und AfD-Mitgliedern."
Was ihn und viele in der Nikolai-Gemeinde besonders ärgert, sind AfD-Plakate mit dem Slogan "Wir sind das Volk". "Der Ring wird heute von vielen Gruppen missbraucht", sagt er. Deren Anliegen hätten oft nichts mehr mit den Kernbotschaften von Freiheit, Demokratie und Dialog zu tun.
Werden die Erinnerungen an die historischen Wendetage 1989 in Leipzig verblassen? Bernhard Stief bleibt gelassen. Er verweist auf ein großes Netzwerk von Institutionen und Einzelpersonen, die mit Ausstellungen, Führungen und Zeitzeugengesprächen die Erinnerung an die Herbsttage 1989 wachhalten. Der 9. Oktober ist ein städtischer Gedenktag. Ein Tag, der in Leipzig immer gefeiert wird. Egal, auf welchen Wochentag er fällt. Stolz fügt Bernhard Stief hinzu: "In Leipzig hat man es geschafft, dass der Begriff Friedliche Revolution zu einem festen Begriff geworden ist."