Die Erlanger Mediziner gehen ein großes Wagnis ein, denn das Unfallopfer ist erst in der 14. Woche schwanger. Ihr Plan: Obwohl bei der jungen Frau der Hirntod festgestellt wurde, soll das ungeborene Kind leben. Am 16. November 1992, vor 25 Jahren, kommt es jedoch zu einer Fehlgeburt, die Beatmungsmaschine wird abgestellt.
"Wohl noch nie in der Bundesrepublik hat die medizinische Behandlung eines Menschen eine vergleichbar heftige Diskussion und über weite Strecken voyeuristische Begleitung erfahren, wie die der sterbenden Marion P.", urteilt der Rechtsanwalt und Autor Oliver Tolmein.
Die 18-Jährige ist am 5. Oktober 1992 mit ihrem Wagen auf der Landstraße unterwegs. Aus ungeklärter Ursache kommt die Zahnarzthelferin von der Fahrbahn ab, ihr Auto prallt gegen einen Baum. Sie erleidet ein Schädelhirntrauma, die linke Augenhöhle und Schädelknochen sind zertrümmert. Ein Hubschrauber fliegt das Unfallopfer in die Universitätsklinik ins fränkische Erlangen.
Schwangere hirntot, Fötus offenbar unverletzt
Drei Tage später wird Marion P. für hirntot erklärt, weshalb die Mediziner Vorbereitungen für eine Organspende treffen. Doch dann stellen sie fest, dass die junge Frau schwanger und der Fötus offenbar unverletzt ist.
Die Ärzte entschieden nach internen Beratungen gegen den Willen der Eltern, dass die lebenserhaltenden Apparate angeschaltet bleiben: Die junge Frau soll den Fötus bis zur Geburtsreife austragen. Das Gremium befindet, "dass der verstorbenen Mutter die Benutzung ihres Körpers zugunsten des Kindes" zuzumuten sei, wie es der behandelnde Oberarzt Johannes Scheele laut Medienberichten formuliert. Er will sich heute nicht mehr zu den damaligen Ereignissen äußern. Nach 40 Tagen mit verschiedenen Komplikationen kommt es dann nach einer Infektion zur Fehlgeburt.
Der einzige Fall dieser Art war das nicht. Für eine 2010 in Großbritannien erschienene Studie wurden 30 ähnliche Fälle weltweit untersucht. Demnach kamen nur zwölf Kinder zur Welt, die die Neugeborenenphase überlebten. Vor allem jene Föten hatten eine Überlebenschance, bei denen die Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Hirntodes schon weit fortgeschritten war. In der Studie waren sie durchschnittlich knapp 30 Wochen alt.
Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer warf den Erlanger Ärzten vor, sie hätten sich zum Herrn über Leben und Tod gemacht. Sie sprach von einem "Größenwahn der Männermedizin" und geißelte den Versuch, die Grenzen vermeintlicher Heilkunst zu verschieben. Strafrechtler jedoch argumentieren, auch ein ungeborenes Kind habe ein Recht auf Leben. Der Schwangerschaftsabbruch an einer hirntoten Frau ist nach Paragraf 218 Strafgesetzbuch strafbar.
Dass die Öffentlichkeit den Fall vor 25 Jahren höchst erregt begleitete, lag auch an der Berichterstattung der Medien. Die Eltern des Unfallopfers Marion P. fühlten sich von den Erlanger Ärzten übergangen und wohl auch missverstanden. Sie suchten die mediale Unterstützung der "Bild"-Zeitung. Das "Erlanger Baby" landete auf den Titelseiten.
In den hitzigen Debatten vermischten sich medizinethische, theologische und juristische Sichtweisen zu einem unauflösbaren Knäuel. Die "Bild" ermittelte in einer Leserumfrage ein eigenes Meinungsbild: Nur 18 Prozent der Leser fanden es demnach richtig, dass eine tote Frau ein Kind zur Welt bringt, 82 Prozent waren dagegen.
Lebensrecht des Fötus oder Recht der Mutter auf natürliches Sterben?
Im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses stand zunächst allein die Frage, ob das Lebensrecht des Fötus höher zu bewerten sei als das Recht der Mutter auf ein natürliches Sterben. Ist es richtig zu versuchen, eine hirntote Schwangere bis zur Entbindung am Leben zu erhalten?
Die Ethikprofessorin Claudia Wiesemann sieht das Vorgehen der Mediziner vor 25 Jahren kritisch. Deren Entscheidung, eine hirntote Frau ihr Kind austragen zu lassen, habe "ethischen Maßstäben nicht genügt", sagte die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates dem Evangelischen Pressedienst (epd) im Rückblick.
"Ein solches Experiment in einer so frühen Phase der Schwangerschaft wäre nur gedeckt gewesen durch die mutmaßliche Einwilligung der betroffenen Frau, und davon konnte man unter den gegebenen Umständen nicht ausgehen", sagte Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen.
Für eine so schwerwiegende Entscheidung müsse "ein fairer Diskursprozess gewährleistet sein, in dem alle Interessenbeteiligten repräsentiert sind", betonte die Medizinerin. Damals hätten jedoch allein medizinische Experten der Fakultät entschieden und sich so über das Persönlichkeitsrecht der Patientin hinweggesetzt, das über den Tod hinaus fortwirke: "Die Verfügung über den Körper eines Menschen auch nach seinem Tod liegt in der Hand des Verstorbenen beziehungsweise seiner Stellvertreter."
2008 gab es erneut einen ähnlichen Fall in Erlangen, allerdings hielt die Klinik die Umstände zunächst geheim. Dort brachte nach 22 Wochen im Wachkoma eine Schwangere einen gesunden Jungen zur Welt. Klinikdirektor Matthias Beckmann bekannte gegenüber einer Zeitung, Herr über Leben und Tod gewesen zu sein: "Aber das ist unsere ärztliche Rolle. Wir haben uns nicht dazu aufgespielt, sondern für das Kind Partei ergriffen."