Theologin Prof. Saskia Wendel von der Universität Thübingen
Friedhelm Albrecht
Theologin Prof. Saskia Wendel beobachtet eine Instrumentalisierung der Religionen durch rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen und Parteien.
Tagung zur Theologie der Zukunft
Theologin gegen antidemokratisches Denken
Die evangelische und katholische Theologie an den Universitäten stehen zunehmend unter gesellschaftlichem Druck. Zu Reformstau kommen Kirchenkrise und manche Kritiker sprechen den Fächern sogar die Wissenschaftlichkeit ab, andere die Wissenschaftsfreiheit. evangelisch.de gegenüber erklärt die katholische Theologin Saskia Wendel (Uni Tübingen), dass sie Handlungsbedarf sieht und über die Zukunft der Theologie nachdenkt. 

evangelisch.de: Frau Prof. Wendel, in welcher Klemme sitzen die Theologien heute denn?

Saskia Wendel: Die Theologien sind in zwei gesellschaftliche Entwicklungen eingeklemmt: Auf der einen Seite in Prozesse wachsender religiöser Indifferenz, also Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Sinndeutungen, die auch mit expliziter Ablehnung von Religion verbunden sein kann. Hinzu kommt der Plausibilitätsverlust religiöser Sinndeutungen, so z. B. im Blick auf den Glauben an ein Leben nach dem Tode.

Ein Leben nach dem Tod eine veraltete Vorstellung?

Wendel: Die Kognitionsforschung macht deutlich, dass unser Bewusstsein eng mit körperlichen Vollzügen, insbesondere mit neuronalen Prozessen im Hirn verknüpft ist. Wenn nun aber der Körper zerfällt – und mit ihm das Gehirn -, ist es für Viele nicht mehr plausibel, angesichts der Verbindung von Bewusstsein und Körper an ein individuelles bewusstes Leben auch über den Tod hinaus zu glauben. Auf der anderen Seite – quasi umgekehrt proportional zur wachsenden religiösen Indifferenz – sind die Theologien in ideologische und politische Instrumentalisierungsversuche von Religion eingeklemmt. Sie sitzen also in der Klemme zwischen Bedeutungsverlust und prekärem Bedeutungszuspruch.

Welche Formen der Instrumentalisierung der Religionen beobachten Sie?

Wendel: Instrumentalisierungen von Religion sind in Form von Inanspruchnahmen als Legitimationsdiskurse für politische Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen sowie für die Errichtung politischer Systeme zu beobachten. Im Blick auf das Christentum finden wir dies derzeit vor allem bei neu-rechten Bewegungen und Parteien. Es gibt den Versuch eines Brückenbaus zwischen Werten und Überzeugungen im Bereich der Fragen um Lebensbeginn und Lebensende, der Lebensformen und geschlechtlichen Identitäten, die als genuin bzw. "wahrhaft" christlich interpretiert werden, und den Programmatiken rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppierungen und Parteien – als "Brückenbauer" dienen hier häufig rechtskonservative und religiös-fundamentalistische Milieus und Gruppen in den jeweiligen christlichen Konfessionen.

Man denke aber auch an die Konstruktion Donald Trumps als unter Gottes Gnade und Schutz stehender Heilsbringer und Retter der Nation durch die MAGA-Bewegung und die Teile evangelikaler und katholischer Milieus in den USA, die Trump unterstützen, oder auch an die Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine durch den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill.

Mit welchen Folgen für die Gesellschaft?

Wendel: Auf einer allgemein gesellschaftlichen und politischen Ebene sind diese Instrumentalisierungsversuche insofern gefährlich, als sie Teil einer "Normalisierungsstrategie" rechtsextremer Parteien sind, und insofern, als dadurch breite Bündnisse bis in die sogenannte "bürgerliche Mitte" der Gesellschaft hinein vorbereitet und ermöglicht werden sollen, um sich selbst einen bürgerlichen Anstrich zu geben – verbunden mit dem Versuch, Konkurrenz aus dem konservativen, jedoch klar demokratisch und nicht völkisch-nationalistisch ausgerichteten politischen Spektrum als nicht "wahrhaft christlich" zu diskreditieren, zu spalten und mittelfristig zu zerschlagen.

Auf konkret religiös-kirchlicher Ebene liegt die Gefahr darin, dass versucht wird, unter dem Label des Eintretens für "wahre christliche Werte" ganz konkret Gemeinden, kirchliche Verbände, christliche Gruppierungen zu unterwandern und zu spalten. Zudem trägt das alles dazu bei, dass sich diejenigen bestätigt fühlen, die Religion per se für eine gefährliche, autoritäre, antidemokratische Angelegenheit halten und deshalb alles Religiöse ins Private zurückdrängen wollen – was wiederum den Trend hin zu religiöser Indifferenz verstärkt.

Welche mögliche Neuausrichtung sehen Sie für die Theologie? 

Wendel: Es hilft nicht, sich in Abwehrhaltungen gegenüber konkurrierenden Selbst- und Weltdeutungen, wie etwa religionslosen Ethiken und Metaphysiken, zu erschöpfen, ebenso wenig wäre es angebracht, allein individualisierte Spiritualitätsbedürfnisse zu befriedigen.  Auch der Rückzug in die vermeintlich sichere Burg der "Verkirchlichung" ist nicht zukunftsweisend, weil sich die Theologie so als gesellschaftlich irrelevant erklärte und sich wissenschaftlicher Auseinandersetzung entzöge bis hin zur Gefahr ideologischer Abschottung.

Vielversprechender ist es meiner Ansicht nach, ausgehend vom Blick auf das Verständnis von Theologie nach der möglichen Zukunft von Theologie zu fragen. Ich bestimme Theologie als Vollzug (doing theology), in dessen Zentrum die Reflexion religiöser Selbst- und Weltdeutungen steht. Für die Frage nach der Zukunft der Theologie ist die Reflexion der wissenschaftlichen Grundhaltungen leitend, die dieses Tätig-sein tragen. Ich habe sechs solcher theologischen Grundhaltungen benannt: epistemisch bescheiden, intellektuell redlich, freimütig, sich selbst redigierend, widerständig, interreligiös eingestellt und offen gegenüber Areligiösen als Diskurspartner:innen.

Handelt es sich hierbei um eine Art Ethik?

Wendel: Ob das eine Ethik ist, darüber habe ich bislang nicht explizit nachgedacht. Aber man könnte es natürlich auch als eine Ethik verstehen, die sich auf den Vollzug der Theologie als Wissenschaft bezieht, allerdings auch verbunden mit der wissenschaftstheoretischen Absicht, das Verständnis von Theologie zu bestimmen.

Wie kann man mit dem Punkt einer angeblich ewigen Geltung von Heiligen Schriften bzw. ihrer Unveränderlichkeit umgehen

Wendel: Auf doppelte Art und Weise: Zum einen im Rückgang auf die mittlerweile theologisch etablierte Schrifthermeneutik und Exegese, die auch die biblischen Schriften in ihrem Entstehen als abhängig von kontextuellen, historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen versteht und dementsprechend auch interpretiert.

"In der Heiligen Schrift begegnet uns nicht direkt und unverstellt Gottes Wort und Wille"

Es ist doch weitgehend theologischer common sense, dass uns in der Schrift nicht direkt und unverstellt Gottes Wort und Wille begegnet, wodurch dann wiederum ewige Wahrheiten begründet würden, an denen nicht gerüttelt werden dürfe. Und zum anderen durch die Bereitschaft, die Aufgabe der rationalen Rechtfertigung des Glaubens und seiner Gehalte auch und gerade auch auf die Bibel zu beziehen. Die Aufgabe, gute Gründe für die Hoffnung, die uns erfüllt, bereitzustellen und so den Glauben uns selbst und anderen gegenüber zu verantworten, macht vor der Schrift nicht Halt. Auch die auf die Schrift bezogenen Geltungsansprüche sind Kriterien wie Kohärenz, Konsistenz und normativer Richtigkeit unterworfen.

Wie sieht es mit der Verantwortung aus – muss Religion politisch sein? 

Wendel: Ich würde anders formulieren: Religionen sind immer schon politisch, ob man will oder nicht, und darin liegt auch ihre Ambivalenz begründet, sie sind verlockend und gefährlich zugleich. Politisch sind sie aus zwei Gründen. Erstens: Religionen kreisen um Deutungen, die sich auf das Leben als Ganzes beziehen, und in denen die Lebenspraxis, der konkrete Existenzvollzug, im Zentrum steht. Es geht um konkrete Konzepte der Lebensführung und -gestaltung, und dazu gehört das Feld des Politischen wesentlich hinzu.

Zweitens: Religiöse Überzeugungen und -praktiken sind mit universalen Geltungsansprüchen verbunden, die auch die Ebene des Politischen betreffen, und deshalb konkurrieren sie sowohl miteinander als auch mit anderen, nicht religiösen Sinndeutungen. Gerade deshalb ist es auch wichtig, sowohl die jeweiligen Überzeugungen als auch die Geltungsansprüche, die mit ihnen verknüpft sind, einem Begründungsverfahren auszusetzen und nicht gegenüber kritischen Einwänden zu immunisieren. Das Gleiche gilt hinsichtlich impliziter oder expliziter Machtansprüche, die mit religiösen Haltungen einhergehen können.

Wie ist dann aber der Ambivalenz von Religionen hinsichtlich ihrer politischen Aspekte zu begegnen?

Wendel: Nicht die Entpolitisierung bzw. Leugnung des Politischen, sondern die ideologie- und Macht-kritische Analyse von Religion sowie gerade aus christlicher Perspektive heraus die Bereitschaft, sich auch dezidiert in politische und öffentliche Belange einzumischen, gehört zum doing theology hinzu – zumal in Bezug auf die christlichen Theologien betrachtet die Botschaft des Nazareners vom Gottesreich in dezidierter Parteilichkeit für Arme, Marginalisierte, Diskriminierte, Deklassierte, für die "Opfer der Geschichte", von eminent politischer Bedeutung war und ist.

 

Dies hat jedoch unter Angabe von Gründen zu geschehen, die auch säkular Eingestellte nachvollziehen können, und in der Bereitschaft zu kritischer Unterscheidung und auch zur Revision von guten Gründen als problematisch beurteilter Gehalte. Diese Form politischer Theologie steht in klarem Gegensatz zu derjenigen, die als Legitimationsdiskurs antidemokratischen und illiberalen Denkens dient, gegen die zu Recht Einspruch zu erheben ist, ohne aber dem eigenen politischen Anspruch zu entsagen.

Info: 
Theologie der Zukunft heißt das Motto einer Tagung an der Universität Heidelberg vom 8. bis 11. September ausgerichtet. Veranstalter des 18. Europäischen Kongress für Theologie sind die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg sowie die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie.