Einmal in der Woche darf er sie anrufen. Kurze Telefonate von ein paar Minuten, die die Welt bedeuten. Dann trennen Raif Badawi und seine Frau Ensaf Haidar sowie die drei gemeinsamen Kinder Tausende von Kilometern zwischen Saudi-Arabien und Kanada. Wenn es nur die weite Entfernung wäre.
Seit dem 17. Juni 2012 ist Badawi in Haft. Das Strafgericht verurteilte den 31-Jährigen im Mai 2014 zu 1.000 Stockhieben, zehn Jahren Haft und umgerechnet 200.000 Euro Strafzahlung. Außerdem darf er nach seiner Haft nicht ausreisen und sich nicht mehr in sozialen Medien engagieren. Erst hielten ihn die Behörden im Briman-Gefängnis in Dschidda, der wichtigsten Hafenstadt Saudi-Arabiens, gefangen. Vergangene Woche wurde der Blogger in eine Isolierzelle in einem abgelegene Gefängnis verlegt, wie Haidar auf ihrer Facebook-Seite schrieb. Könnte sein, dass auch die wöchentlichen Anrufe gestrichen werden.
"Raif brauchte dieses Forum - und Saudi-Arabien auch"
Sein Vergehen: Er gründete einen Blog. Das "Liberal Saudi Network" diente seit 2005 als Meinungsaustausch von Menschenrechtsaktivisten und Intellektuellen in Saudi-Arabien. Die Forumsseite ist längst gesperrt; seine Texte in der Heimat verboten. Versatzstücke seiner liberalen Gedanken aber sind in seinem Buch "1000 Peitschenhiebe" veröffentlicht: "Du bist ein Mensch? Dann ist es dein gutes Recht, dich auszudrücken und zu denken, was immer du willst." Für seinen Mut erhält Badawi am Mittwoch in Straßburg vom EU-Parlament den Sacharow-Preis für Menschenrechte - in Abwesenheit.
Im Grundgesetz Saudi-Arabiens, das auf dem islamischen Recht der Scharia basiert, ist die Rolle der Medien definiert: Sie sollen zur Festigkeit der Nation beitragen, sagt Christoph Dreyer von "Reporter ohne Grenzen". Zudem gebe es viele Tabuthemen: Kritik am Islam und am Königshaus oder die Geschlechtertrennung. Die Konsequenz seien rund 400.000 gesperrte Internetseiten, lange Haftstrafen für Journalisten und Aktivisten ohne Begründung und anwaltlichen Beistand.
Badawi hat mit seinen Gedanken und Forderungen das System in Saudi-Arabien herausgefordert - obwohl er ahnte, dass es ihm gefährlich werden könnte. Seine Frau Haidar lebt heute mit den drei Kindern im politischen Asyl in Kanada. Sie beschreibt in ihrem Buch "Freiheit für Raif Badawi" die Konsequenz, mit der ihr Mann das Forum betrieb: "Raif brauchte dieses Forum - und Saudi-Arabien brauchte es auch."
Badawi wandte sich im Laufe der Zeit immer mehr auch säkularen Ideen zu. "Der liberale Staat ist ein Staat ohne Religion." Das bedeute, "dass er die Rechte aller Religionen bewahrt, sie fördert und unterstützt, ohne Diskriminierung oder Bevorzugung einer Religion gegenüber einer anderen", schreibt er in einem Artikel 2012. "Raif Badawi hat weder dazu aufgerufen, die Monarchie abzuschaffen, noch hat er seine Religion beleidigt", stellt Regina Spöttl von Amnesty International Deutschland klar. Badawi habe Freiheit für die Menschen in Saudi-Arabien erreichen wollen.
Nach 50 Schlägen wurde die Strafe ausgesetz
Stattdessen wird der Blogger 2013 der Apostasie - Abfall vom Glauben - angeklagt und zum Tode verurteilt. "Als der Richter dann sagte gesagt hat, dass mir die Todesstrafe gebührt, habe ich an dich gedacht und gelächelt", beschreibt Haidar Badawis Worte als er ihr am Telefon von dem Urteil berichtet.
Badawi und Haidar - die beiden verbindet eine große Liebe und gegenseitiger Respekt. Das war nicht immer so. Zwar hätten sie aus Liebe geheiratet, was unüblich in Saudi-Arabien ist, weil Ehen gemeinhin arrangiert sind. Dennoch war auch er zu Beginn ihrer Ehe von der "natürlichen Überlegenheit des Mannes" überzeugt, wie Haidar schreibt. Doch im Laufe der Zeit setzt er sich immer öfter auch für Frauen ein. Zusammen mit der Frauenrechtlerin Souad al-Shammari verantwortete er 2010 die Neuauflage seines Internetforums. Seine Frau ermuntert er in den folgenden Jahren, selbst an Diskussionen auf dem Blog teilzunehmen.
Das Todesurteil gegen Badawi wurde aufgehoben. Die Verurteilung zu 1.000 Stockhieben und zehn Jahren Haft hat der Oberste Gerichtshof aber bestätigt. Im Januar 2015 erhielt Badawi vor einer Moschee in Dschidda öffentlich und unter Jubel die ersten 50 Schläge. Seither ist die Bestrafung, die Amnesty gemäß dem Völkerrecht als Folter beurteilt, ausgesetzt. Wie lange, weiß niemand.