Vorsichtig zieht Mona Gharib den bunten Stoffbeutel auf. Ganz unten in das flauschige Vlies hat sich ein kleines braunes Lebewesen gekuschelt: ein Eichhörnchen-Junges. "Das ist Odin, ein echter Wonneproppen", sagt Gharib. Odin ist ihr jüngster Neuzugang, gerade einmal zwei Wochen alt. Ein Ehepaar aus Helmstedt hat ihn zu ihr nach Burgdorf bei Hannover gebracht, die beiden hatten das Tier mit blutiger Nase auf der Terrasse gefunden. Mona Gharib ist lizenzierte Eichhörnchen-Retterin mit Sachkunde-Nachweis vom Veterinäramt - eine von rund 500 in Deutschland.
Auf ihrem Privatgrundstück hat sie gemeinsam mit ihrem Mann eine komplette Rettungsstation für die Tiere aufgebaut. Das halbe Untergeschoss nehmen die Volieren in Beschlag, dazu kommt noch ein Teil des Gartens. "80 Prozent der Tiere, die in meine Station kommen, sind verletzte und verwaiste Jungtiere", erzählt Gharib. Rund um die Uhr ist die Umweltchemikerin in ihrer Freizeit für die Hörnchen im Einsatz, zur Not auch nachts. Mehr als 60 Tiere hat sie seit Beginn der Eichhörnchen-Saison, die von März bis Oktober dauert, schon bei sich aufgenommen.
Denn die kleinen Nager mit dem buschigen Schwanz leben gefährlich: Nicht nur, dass viele Junge schon mal aus ihren kugelrunden Nestern stürzen, den Kobeln, die die Eichhörnchen am liebsten hoch oben in den Wipfeln von Nadelbäumen bauen. Viele Hörnchen werden auch von Autos angefahren. Katzen, Marder und Greifvögel sind eine beständige Gefahr für sie.
Eichhörnchen stehen in Deutschland unter Artenschutz. "Sie dürfen weder getötet noch gejagt werden", erläutert die Tiermedizinerin Christine Dickmann vom bundesweiten Verein "Eichhörnchen Notruf". Sie schätzt, dass jährlich rund 15.000 verletzte Hörnchen bei den Rettungsstationen ankommen. "Wir kämpfen um jedes Tier."
Das Problem: Wenn ein Eichhörnchen-Junges verletzt oder krank ist, nimmt es die Mutter nicht mehr an. "Das mag zunächst hart klingen", sagt Mona Gharib. "Aber Eichhörnchen sind nun mal Wildtiere. Die Natur hat es so eingerichtet, dass sich die Mutter nur um die gesunden Kinder kümmert." In diesem Fall muss also eine Ersatzmutter ran - jemand wie Mona Gharib. Die ehrenamtlichen Retter:innen nennen sich selbst "Päppler", weil sie kranke Hörnchen groß päppeln - von der Milchflasche bis zur Auswilderung.
So ist es auch bei Odin. Inzwischen bringt er schon 58,8 Gramm auf die Waage, erzählt Gharib stolz. "Als ich ihn gekriegt habe, waren es nur 46." Mit dem Fläschchen bekommt Odin mehrmals täglich warme Anzuchtmilch. Rund 20 Stunden am Tag schläft er. Dafür rollt er sich in dem bunten Stoffbeutel, seinem "Schlafsack", zu einer Kugel ein.
Ihre "Milchlinge" trägt Mona Gharib oft im Beutel unter der Kleidung direkt am Körper - auch während ihrer Arbeit als Referentin für Natur- und Artenschutz der evangelischen Landeskirche in Hannover: "Sie brauchen den Herzschlag und die Wärme."
Wenn er ein bisschen größer ist, wird Odin erst einmal in eine der fünf Volieren im Untergeschoss umziehen. Hier lernen die Jungen alles, was ein Eichhörnchen so braucht. "Sie müssen springen, hüpfen, klettern. Und eigenständig fressen." Der kleine Thor macht schon vor, was er alles kann: In der Voliere springt er von einem Ast zum anderen, krallt sich am engmaschigen Gitternetz fest, krabbelt kopfüber an der Decke entlang.
Thor kam vor vier Wochen in Burgdorf an. Nur wenige Tage war er da alt, geschwächt durch Parasiten. Jetzt frisst er schon Hasel- und Walnüsse wie die Großen, dazu Bucheckern und Sonnenblumenkerne. Mona Gharib lagert das Futter hier unten im "Eichhörnchen-Zimmer" - neben allerhand Medikamenten, medizinischen Geräten und Desinfektionsmitteln. Das alles geht ins Geld, deshalb ist der Eichhörnchen-Notruf auf Spenden angewiesen.
Tierärztin Dickmann, die in Griesheim bei Darmstadt praktiziert, rät Findern verletzter Eichhörnchen strikt davon ab, die Tiere selbst aufzupäppeln. Denn wenn sie falsch behandelt werden, können sie sterben. Wer im Wald oder Park ein hilfloses Hörnchen findet, solle erst einmal abwarten, ob die Mutter es nicht doch noch zu sich hole - denn manchmal wollten die Jungtiere nur ihre Umgebung erkunden. Wenn nach zwei, drei Stunden aber immer noch nichts passiert sei, gebe es nur eins: "Sofort beim Eichhörnchen-Notruf anrufen."
Drei bis vier Monate kann es dauern, bis ein Hörnchen groß gepäppelt ist. Wenn sie fit sind, kommen die Tiere bei Mona Gharib nach draußen in die großen Gehege im Garten. Hier sind sie kurz vor der Auswilderung. Hörnchen Samira hüpft am Rand des Gitters auf und ab. "Sie zeigt uns: Ich möchte hier raus. Mich kannst du nicht mehr halten", sagt Gharib.
In einigen Tagen wird Samira gemeinsam mit anderen Tieren in die Natur zurückkehren. Dann bringt Mona Gharib die ganze Gruppe in den Wald, wo sie eine weitere Voliere aufgestellt hat. Den genauen Ort hält sie geheim. "Ich möchte keinen Hype und keinen Vandalismus." Nach ein bis zwei Tagen wird sie eine Klappe öffnen, damit die Tiere in die Freiheit entschlüpfen können. Für Mona Gharib der schönste Moment: "Wenn sie im Wald herumlaufen und mich ignorieren: Dann bin ich richtig zufrieden."
Stichwort: Eichhörnchen:
Eichhörnchen sind Nagetiere, die in ganz Europa vorkommen. Ihr Körperbau ist perfekt: Mit kräftigen und wendigen Hinterbeinen können sie bis zu fünf Meter springen und mit scharfen Krallen an den Vorderpfoten geschickt klettern. Ihr buschiger Schwanz dient der Balance. Samt Schwanz werden Eichhörnchen bis zu 40 Zentimeter lang. Sie wiegen bis zu 400 Gramm und können sieben Jahre alt werden. Ihr Fell ist fuchsrot bis schwarz, ihr Bauch stets weiß.
Ihre Ernährung: Früchte, Nüsse, Knospen und Samen sowie Beeren, Pilze, Zweige oder Rinde. Sie plündern auch mal ein Vogelnest. Im Herbst legen sie sich einen Vorrat an und verstecken Futter in Erddepots. Im Januar und im Sommer ist Paarungszeit mit wilden Verfolgungsjagden durch die Bäume. Ansonsten leben die tagaktiven Tiere als Einzelgänger. Ein Weibchen bringt zwei- bis dreimal im Jahr bis zu fünf Junge zur Welt, die es alleine aufzieht. Das Männchen wird dann vertrieben.
Ihre Nester bauen die Eichhörnchen in mindestens sechs Metern Höhe in den Baumwipfeln. Weil der Wald von den Menschen immer stärker bewirtschaftet wird, schrumpft der Lebensraum zusammen. Daher haben sich die Tiere auch in Städten, Gärten und Parks angesiedelt.
Was tun, wenn man verletzte Eichhörnchen findet?
Sitzt im Wald, Park oder Garten ein Eichhörnchen, das verletzt oder hilflos wirkt, raten Experten dringend davon ab, das Tier mit nach Hause zu nehmen. Verletzte Eichhörnchen gehörten in die Hand von erfahrenen Helfer:innen in Rettungsstationen, so Tiermedizinerin Christine Dickmann vom bundesweiten Verein "Eichhörnchen Notruf" mit Sitz in Hamburg. Diese Ehrenamtlichen sind besonders geschult und verfügen über eine Sachkunde-Nachweis vom Veterinäramt. Oft betroffen sind Jungtiere, die nach Baumfällarbeiten oder Stürmen aus dem Nest gefallen sind.
Sinnvoll: verwaiste Jungtiere wärmen und in ein Handtuch wickeln, damit sie nicht auskühlen. Bei ausgewachsenen Eichhörnchen schützt ein Tuch vor Bissen. Experten betonen, dass Eichhörnchen keine Tollwut übertragen. Wenn nach zwei, drei Stunden nichts passiert sei, sollten die Finder zügig einen Eichhörnchen-Notruf anrufen Es gibt weitere Eichhörnchen-Rettungsvereine.
Bundesweites Service-Telefon des Eichhörnchen-Notrufs: 0700/20020012, von März bis September täglich besetzt von 10 bis 12 und 17 bis 19 Uhr