Bei der Hirschart, die in der Polarregion zu Hause ist, tragen im Winter nur die Weibchen ein Geweih. Ihr dichtes Fell und die breiten Hufe helfen ihnen bei extremen Verhältnissen. Überall tauchen sie zur Weihnachtszeit auf, als Dekoartikel auf Weihnachtsmärkten und in Schaufenstern oder als Plüschfigur. Echte Exemplare lassen sich meist nur in der Polarregion finden. In Deutschland kann man Rentiere in einigen Tierparks und Zoos beobachten, etwa im Wildpark Pforzheim, dem Opel-Zoo im Taunus oder dem Karlsruher Tierpark Oberwald. Dort betreut Tierarzt Marco Roller ein männliches und drei weibliche Waldrentiere.
Der Veterinär räumt gleich mit dem Missverständnis auf, dass es sich bei den insgesamt neun Weihnachtsmann-Rentieren aus der berühmten Geschichte und dem Lied von "Rudolph mit der roten Nase" um Männchen handelt, weil sie ein Geweih tragen. Rentiere seien die einzige Hirschart, bei der beide Geschlechter ein Geweih haben, erzählt Roller im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Frauenpower vor dem Schlitten von Santa Claus
Im Spätherbst werfen die Männchen ihr Geweih ab, sind über Weihnachten also geweihlos. Die Weibchen hingegen behalten ihr Geweih bis zum Frühjahr. "Die Rentiere des Weihnachtsmannes sind also alle Weibchen", sagt Roller mit einem Schmunzeln. Was nach Frauenpower klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Wenn gegen Ende des Winters die Nahrung knapp wird, können sich die Weibchen durch ihr Geweih bei der Futtersuche besser gegen die schwereren Männchen behaupten. Das sei vor allem für schwangere Tiere ein wichtiger Vorteil. Rentiere ernähren sich von Gräsern, Kräutern, Blättern und Pilzen, doch ihre Leibspeise sind Flechten. Die importiert der Zoo Karlsruhe extra aus Finnland.
Die Paarhufer sind optimal an die extremen Bedingungen in der Tundra und Taiga angepasst. Mit langen Beinen stapfen sie durch den Schnee. Sie können ihre breiten Hufe durch eine elastische Haut zwischen den beiden Hufteilen aufspreizen. Damit finden sie auf gefrorenem und schlammigem Untergrund gut Halt.
Mit ihrer großen Nase erwärmen sie die kalte Luft beim Einatmen, bevor sie die Lungen erreicht. Sogar für die leuchtend rote Nase von Rentier Rudolph, für die er in der Geschichte gehänselt wird, gibt es eine wissenschaftliche Erklärung. Rentiernasen seien viel stärker durchblutet als beim Menschen, fanden Wissenschaftler der schwedischen Universität Lund vor einigen Jahren heraus. Auf Infrarotbildern erscheint das Riechorgan, im Gegensatz zu großen Teilen des Körpers, leuchtend rot. Und noch eine weitere Besonderheit zeichnet die Rentiere aus: Sie können die Farbe ihrer Augen im Winter von Goldbraun zu Dunkelblau ändern. Dadurch werden die Augen lichtempfindlicher, und die Tiere können im Dunkeln besser sehen. Bei den Karlsruher Exemplaren verändert sich die Augenfarbe allerdings nicht. Dafür seien lange Dunkelphasen wie in der Polarregion nötig, erklärt Roller.
Rentierbestände schrumpfen deutlich
Weltweit wird die Zahl der Rentiere auf 2,9 Millionen geschätzt. Doch die Bestände gehen zum Teil dramatisch zurück. Gründe dafür sind menschengemachte Einflüsse wie Klimakrise, Verkehr und Wilderei. Zudem werden sie von Raubtieren wie Wölfen gejagt. Noch dramatischer ist es um die Unterart der Waldrentiere bestellt. "Rangifer tarandus fennicus", so ihr wissenschaftlicher Name, sind mit etwa 5.000 Exemplaren weltweit in ihrem Bestand bedroht. In Finnland waren sie Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerottet. Mittlerweile gibt es dort wieder etwa 3.000 Tiere. 2.000 weitere leben im Nordwesten Russlands.
Deshalb beteiligt sich der Zoo Karlsruhe an europäischen Erhaltungszuchtprogrammen. Damit soll die sogenannte Reservepopulation in Menschenobhut vergrößert und später ausgewildert werden, erläutert Roller. In Deutschland gibt es lediglich sechs weitere Tierparks an denen das Waldren, wie es auch genannt wird, gehalten wird. Das Erhaltungszuchtprogramm für Waldrentiere wird im finnischen Helsinki gemanagt. Dort wird entschieden, welche Tiere in welche Einrichtung kommen, um Inzucht zu vermeiden und die genetische Variabilität möglichst groß zu halten.
Mit einem Schlitten voller Geschenke durch die Winternacht fliegen wie in der Weihnachtsmann-Geschichte, das schaffen Rentiere zwar nicht. Aber sie sind sehr gute Schwimmer und können schnell rennen, mit bis zu 70 Kilometern pro Stunde, erklärt Tierarzt Roller. Angst, dass die Geschenke nicht rechtzeitig ankommen, muss also niemand haben.