Es beginnt mit Schulterkreisen und Gähnen, mit "Ssst", "Ruiuiui" und "Dododo": Jede Probestunde des inklusiven Chors "Vergissmeinnicht" in Hamburg-Wandsbek startet mit Lockerungsübungen. "Bewegung gehört dazu", sagt Chorleiterin Monika Röttger. Sie setzt sich ans Klavier und gibt erste Töne vor.
18 ältere Männer und Frauen sind heute da. Etwa ein Drittel von ihnen ist von Demenz betroffen, andere sind Angehörige oder Menschen, die einfach Lust auf Singen haben. Man tuschelt, knufft sich in die Seite und lacht. Es geht los, "Frühling kehrt bei uns ein" erklingt. Manche stehen, andere sitzen. Strenge Vorschriften gibt es nicht. Nur eines ist der Stimmtherapeutin wichtig: "Das gemeinsame Singen soll glücklich machen."
Perfektion, darauf kommt es der 60-jährigen Chorleiterin mit den kurzen Haaren nicht an. "Auch Schema-F funktioniert bei diesem Chor nicht, wir orientieren uns immer an den Schwächsten in der Gruppe", sagt sie. Was es brauche, seien Humor, Geduld und Spontaneität. Manchmal werden Teilnehmende unruhig, tanzen, bekommen Lachanfälle oder kommen zum Klavier und wollen die Notenblätter sortieren. "Da muss ich einfach gut improvisieren können", sagt Röttger und schmunzelt. Auf dem Programm stehen Lieder wie "Veronika, der Lenz ist da", das viele Sängerinnen und Sänger von früher kennen, aber auch einfache Stücke aus Afrika. Seit zehn Jahren leitet sie diesen besonderen Chor, inzwischen rückt das Thema Musik für Demenzerkrankte immer mehr in den Fokus.
Im vergangenen Jahr gründete der Deutsche Musikrat die Bundesinitiative "Musik und Demenz", um entsprechende Angebote flächendeckend voranzubringen. Auch das Bundesseniorenministerium und der Bundesmusikverband Chor & Orchester (BMCO) wollen das Angebot für Betroffene stärken und gründeten Anfang März das Förderprojekt "Länger fit durch Musik".
Der Bedarf ist groß. Laut dem zuständigen Bundesministerium waren 2022 mehr als 1,8 Millionen Deutsche von Demenz betroffen, laut Schätzungen wird sich die Zahl bis zum Jahr 2050 auf rund 2,6 Millionen erhöhen. "Musiktherapie ist vor allem da hilfreich, wo Worte und Gespräche nicht mehr möglich sind", sagt Lutz Neugebauer, Leiter der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft.
"Wenn Menschen mit Demenz beim Singen gemeinsam aktiv sind, stärkt das ihr Selbstwertgefühl und ist einfach Lebensfreude pur", sagt Anna Hassel von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg, die das Projekt "Vergissmeinnicht"-Chöre leitet. Zwei inklusive "Vergissmeinnicht"-Chöre gibt es in Hamburg, einen in Wandsbek, den anderen in Altona. Es sollen noch mehr werden, damit der Weg für die Sängerinnen und Sänger zu den Chorproben möglichst kurz ist.
Gesangstraining kann Verlauf verlangsamen
Hassel möchte Hemmschwellen abbauen, mit Vorurteilen aufräumen. "Wenn Demenzerkrankte nach langer Coronapause noch alle Liedtexte können, geht einem das Herz auf", sagte die 40 Jahre alte Sozialarbeiterin und lächelt. Der Chor sei viel mehr als nur Musik: Hier hätten sich neue Freundschaften gefunden, pflegende Angehörige tauschten sich aus, stützten einander, gemeinsam habe man Spaß.
Forschungen belegten, dass Musik auch bei unruhigem oder ängstlichem Verhalten helfe. Und wenn Demenzerkrankte neue Lieder lernten, sei das "aktives Gedächtnistraining", sagt Hassel, die auch Expertin für Kulturarbeit mit Älteren (Kulturgeragogin) ist. Das Training könne die Demenzerkrankung zwar nicht aufhalten, aber ihren Verlauf verlangsamen, sagt sie.
Besonders freut es Hassel, wenn die Betroffenen bei den regelmäßigen Auftritten über sich hinauswachsen: "Ich möchte, dass unsere Sängerinnen und Sänger gesehen werden und den Applaus genießen können." Ein Highlight wird im Juli der Auftritt bei "Die Elbphilharmonie singt". "Vergissmeinnicht" ist einer von 20 teilnehmenden Laienchören aus Norddeutschland.
Der Chor- und Orchesterverband BMCO sieht Musik als "Königsweg" zu Menschen mit Demenz. Sie baue "Klangbrücken" zu Erinnerungen, Angehörigen und Betreuerinnen und Betreuern.
Wie sich das anfühlt, erlebt Tanja Döhring mit ihrem Vater Kurt Mletschkowsky, der in einer Demenz-Wohngemeinschaft lebt. Seit Jahren singen die beiden gemeinsam im "Vergissmeinnicht"-Chor. "Es tut ihm richtig gut und er hat nette, neue Menschen kennengelernt", erzählt Döhring und legt ihre Hand auf den Arm ihres Vaters. Früher habe er oft unter der Dusche gesungen. Richtige Gespräche könne sie mit ihrem Vater nicht mehr führen, aber beim Chor spiele das auch keine Rolle: "Mein Vater strahlt richtig, wenn er singt." Und sogar neue Melodien kann er sich merken.