Wo der Altar stand, steht ein Bett. Wo die Orgel aus allen Registern tönte, hat vielleicht der Laptop seinen Platz gefunden. Zwischendecken und neue Wände teilen die ehemalige Weite des Kirchenraums. Aus dem Kirchenschiff wird ein Wohnzimmer und ein Lift am Glockenturm beschleunigt den Weg nach draußen. In Deutschlands großen Städten ist preiswerter Wohnraum knapp. Junge Familien verlassen die Innenstadt, weil ihre Bleibe wegen der Kinder zu klein wird und sie sich die teuren Mieten der begehrten Wohnungen mitten in der City nicht mehr leisten können. Auch viele Studierende und Senioren ziehen ins Umland. Ehrgeizig werden ungenutzte Wassertürme, Bunker oder alte Bahnhofe in Wohnungen umgewandelt. Alternativer Wohnraum ist zur Zeit gefragt. An leer stehende Kirchen aber scheinen sich nur wenige Architekten zu wagen. Denn der Weg einer Umnutzung ist lang und schwierig.
In den USA gibt es für Kirchen spezielle Makler. In den Niederlanden gehören Gotteshäuser mittlerweile zum gewöhnlichen Immobilienmarkt. Auch in London wurde eine ehemalige Kirche zur Luxuswohnung umgewandelt und zu einem der teuersten Häuser der britischen Hauptstadt überhaupt. Die Deckenhöhe im Wohnzimmer soll zwölf Meter betragen. Deutschland hingegen steht noch recht weit am Anfang dieser Entwicklung. Leer stehende Gotteshäuser sind meist Sanierungsfälle, sie stehen unter Denkmalschutz und bieten einfach zu viel Raum, der gut genutzt werden will. Das alles macht vieles teuer. Dabei ist eine Umnutzung der Kirche an sich in vielen Ländern nichts Neues und Ungewöhnliches. In den Niederlanden etwa wurden in der Vergangenheit bereits einige Kirchen, Kapellen oder Klöster zum Justizpalast, Schauspielhaus, Kasino, Museum oder Möbelgeschäft, auch zur Wohnung umfunktioniert. "Fast jedes Gebäude, das älter als 50 Jahre ist, wurde in seiner Geschichte ein oder mehrere Male umgenutzt", erklärt der emeritierte Soziologie-Professor Nico Nelissen. Auch in Deutschland wurden bereits während der Reformation zahlreiche katholische Kirchen für den protestantischen Gottesdienst übernommen.
Wohnungen in aufgegebenen Kirchen sind in Deutschland selten
In Deutschland werden Kirchenräume, wenn ihnen nicht der Abriss droht, vermehrt seit Mitte der 1990er Jahre umgewandelt. Wenn ein Gebäude nicht mehr für Gottesdienste gebraucht wird, sucht die Gemeinde nach anderen, sinnvollen und angemessenen Nutzungsmöglichkeiten. Das aber sei nicht immer einfach, weil nicht jede neue angestrebte Nutzung dem sakralen Charakter einer Kirche entspreche, erzählt Andrea Rose, stellvertretende Pressesprecherin der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW). Gute Erfahrungen aber hätten Kirchengemeinden der westfälischen Landeskirche mit der Vermietung oder dem Verkauf von Kirchen an andere christliche Religionsgemeinschaften gemacht. So wurden seit 2001 in der EKvW insgesamt 54 Kirchen und 34 weitere Predigtstätten, meistens Gemeindezentren, entwidmet, also profanisiert. In der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EBKO) wurden "seit der Wende 1989 rund 20 Kirchen entwidmet. Von 2000 Kirchen und Kapellen ist das ein ganz geringer Prozentsatz.", sagt der für diese Landeskirche zuständige Pressesprecher Volker Jastrzembski. Der Umwandlungsprozess läuft also langsam an. Mittlerweile werden auch in Deutschland ehemalige Kirchen als Restaurants genutzt, oder sie bieten Raum für Ausstellungen und Konzerte oder werden, wie in Mecklenburg-Vorpommern, zur Sparkassen-Filiale. Dennoch sei es doch etwas völlig anderes, wenn Kirchen umfunktioniert würden, als wenn beispielsweise eine alte Schule umgewandelt werde, sagt Martin Amonn von der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (Stiftung KiBa).
Einen zentralen Überblick, wie viele evangelische Kirchen in Deutschland zum Wohnraum umgewandelt werden, gibt es nicht. Scheinbar sind das Einzelphänomene. Man muss schon mit der Lupe suchen, um solche Objekte auf der Landkarte zu finden: So sind in der Lutherkirche Berlin-Spandau etwa neun Sozialwohnungen im einstigen Kirchenschiff entstanden. Oder in Rostock: Dort gibt es Wohnungen im Dach der Nikolaikirche. In Köln baute der Architekt Mathias Romm die Hinterhofkirche der Gemeinde Jeremiah aus den 1960er Jahren zum Familiendomizil mit 410 Quadratmetern Wohnfläche um. Anfang des Jahrtausends wurde die Wuppertaler Kreuzkirche von der Gesellschaft für Entsorgung, Sanierung und Ausbildung (GESA) komplett saniert und mit öffentlichen Zuschüssen in ein Wohnhaus mit 15 Wohnungen als Projekt für Alleinerziehende und ihren Kindern umgebaut. Es gibt einen 100 Quadratmeter großen Raum, der für einige Aktivitäten des Hauses, aber auch der Gemeinde und der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Auch in Altena, im Kirchenkreis Iserlohn, wird die Melanchthon-Kirche, wie auch die evangelische Versöhnungskirche im münsterländischen Benteler, ein moderner Kirchenbau, privat bewohnt. Menschen, die ehemalige Kirchen beziehen, können die Gewissheit haben, dass sie an einem Ort mit Vergangenheit leben, an welchem Menschen Zuflucht und Frieden gefunden haben.
Ein Ritus hilft, den Schmerz des Abschieds zu verarbeiten
Gemeindemitgliedern fällt diese Umnutzung "ihrer" Kirche oftmals nicht leicht. So bestimmen doch viele Gotteshäuser auch das Gesicht einer Stadt und wurden über die Jahrhunderte hinweg zu zentralen Wahrzeichen. Für die meisten Kirchengemeinden wird die Aufgabe eines Gebäudes eine schmerzliche Erfahrung. Plötzlich heißt es Abschied nehmen von einem vertrauten Ort und dem Haus, in dem bisher die wöchentlichen Gottesdienste gefeiert wurden, wie auch persönliche Feste des Lebens: angefangen von der Taufe, Konfirmation über die Hochzeit bis zur Beerdigung eines Angehörigen. Der Umbau einer Kirche zu gewerblichen oder Wohnraum-Zwecken setzt daher eine Entwidmung voraus. Ein Ritus hilft Menschen, diesen Abschied vollziehen zu können.
Nach protestantischem Verständnis hat der Kirchenraum keine sakrale Würde. "Da es nach evangelischer Auffassung das Wort und der Glaube sind, die ein Gebäude heiligen, kann es keine an sich heiligen Räume geben. Das macht die Aufgabe des Abschiedes aber nicht leichter, sondern im Gegenteil besonders anspruchsvoll", sagt die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD). Bei diesem Schwellenritual empfiehlt sie den Gemeinden drei Phasen des Abschieds zum Entwidmungsgottesdienst: die Erinnerung, den Übergang und die Vergewisserung. Der Gemeinde wird beispielsweise empfohlen, sich in Schritten von dem Gebäude zu trennen, mit denen die Erinnerungen in Ausstellungen oder Gemeindeveranstaltungen noch einmal lebendig nahe gebracht werden. Ein Abschiedsbuch oder ein Gemeindenachtmittag mit Erzählungen könne den Menschen helfen, ihre Trauer zu empfinden und zuzulassen.
Ansprüche, Anforderungen und Herausforderungen
"Umgestaltungen und Umbauten von Kirchen gehören zu den anspruchsvollsten Architekturaufgaben", sagen Verantwortliche des Landeskirchenamts der Evangelischen Kirche von Westfalen. In aller Regel erfüllten Kirchen nicht die Anforderungen an einen ausreichenden Wärmeschutz. Dann flattert einem schnell eine hohe Heizkostenrechnung ins Haus. Deswegen sei der Wärme-, Schall- und Brandschutz zu beachten. Das Baureferat der Landeskirche berät und unterstützt betroffene Gemeinden. Beim Umbau sind auch die spezielle Akustik des Raumes und eine richtige Belüftung wichtig. Alle baulichen Veränderungen sollten nach Möglichkeit rückbaufähig sein. "Es gibt keine Liste, die sagt, was geht und was geht nicht", sagt Pastor Dr. Johannes Neukirch, Pressesprecher der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Nur einmal habe es einen Interessenten gegeben, der eine Kirche kaufen wollte. Dies sei aber an Vorgaben des Landesamts für Denkmalpflege gescheitert. Allein in der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) sind neun von zehn Kirchen denkmalgeschützt, die Anforderungen entsprechend hoch.
Viele Kirchen sind denkmalpflegerisch gefährdet, wenn ihre Architektur verändert wird und gleichzeitig neue Funktionen integriert werden, die wenig mit der Bedeutung des Gebäudes als Sakralbau zu tun haben. Oberkirchenrat Pfarrer Stephan Krebs, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gibt zu bedenken, dass das ästhetische Programm der Kirche baulich nur so verändert werden solle, dass es Menschen nicht irritiere. "Sonst wäre das ein Etikettenschwindel und kulturelle Fehlinterpretation". Was nach Kirche aussieht, soll auch Kirche sein.
Kirchenumnutzung als Lernprozess
Was kann Deutschland von den nicht immer positiven Erfahrungen der Niederlande bei der Umnutzung von Kirchen lernen? Menschen machen sich oft erst bei der drohenden Aufgabe der Kirche Gedanken über ihre eigene Beziehung zu diesem Raum. Dr. Birgit Gropp vom Projektbüro Kunst und Buch in Münster empfiehlt, in solchen Momenten könne man über neue Religiosität und Spiritualität diskutieren. Man könne sich auch gegen Investoren und Bauherrn schützen, die das religiöse Erbe vor allem als Immobilienprofit sehen. Sie appelliert, mit Vorsicht und Gefühl vorzugehen, was in diesem Bereich angemessen ist und was nicht. Wer dieser Tage in Kaiserslautern auf Wohnungssuche ist, findet eine neuapostolische Kirche aus dem Jahr 1984 zum Kauf auf dem Immobilienmarkt: Sechs Zimmer, 350 Quadratmeter für 148.000 Euro und Zentralheizung.
Dieser Artikel erschien erstmals am 22. August 2013.