Im vergangenen Jahr berichteten immer mehr Zeitungsartikel über die Frage, wie Europa seine militärische Abschreckung durch Atomwaffen organisieren soll. Sie diskutieren mögliche neue Bündniskonstellationen innerhalb Europas und der NATO, und das ist oft mit Vorschlägen der "Eurobombe" verbunden. Es geht um die Möglichkeit der nuklearen Aufrüstung in Europa. Anscheinend kommt das alte System der internationalen Abschreckung und Sicherheit an sein Ende, das die nördliche Halbkugel seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wesentlich prägt. Soll die EU mit einem eigenen Atomwaffenprogramm da mitmachen? Der Ukrainekrieg und die Wahl Donald Trumps heizen die Debatte an. Das ist auch aus christlicher Sicht besonders brisant. Eine internationale Gruppierung von Atomwissenschaftlern hält die nukleare Bedrohung für die schwerwiegendste Krise, der unser Planet im Augenblick ausgesetzt ist.
An der Epochenschwelle?
Vor achtzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Als Schlusspunkt gilt der Abwurf der beiden Atombomben in Hiroshima und Nagasaki. Mit den Bomben eröffneten die USA zugleich den sogenannten Kalten Krieg. Es folgte ein immenses Wettrüsten zwischen Ost und West. Zu einem Höhepunkt kam es mit dem NATO-Doppelbeschluss zur Nachrüstung 1979, der auch die christliche Friedensbewegung stark herausgefordert hat. Bald darauf, vor nun vierzig Jahren, zeichnete sich wiederum ein Abebben des Wettrüstens ab. Es entstand das System der kollektiven Sicherheit, das auch für die christliche Friedensethik entscheidend war. Ronald Reagan und Michail Gorbatschow erklärten 1985: "Einen nuklearen Krieg kann niemand gewinnen, und er darf niemals ausgefochten werden." Es wurde ein internationales Regime der Rüstungskontrolle, der Verträge und der Verständigung aufgebaut.
Doch der letzte große Vertrag dieser Epoche läuft in einem Jahr aus: "New START", das letzte große Abkommen, das uns von einem beispiellosen, anarchischen Wettrüsten trennt – nun aber nicht mehr einem Wettrüsten zwischen zwei Gegnern, sondern zwischen dreien oder eher noch mehr. Das traditionelle System der Rüstungskontrolle erreicht sein Ende. Übersichtlicher werden die Konflikte nicht. Es stehen Weichenstellungen an, die die nächsten vierzig oder achtzig Jahre wesentlich mitbestimmen könnten.
Europa und die NATO
In der europäischen Sicherheitsarchitektur stehen bislang die USA als Gewährsmacht in der NATO ein: Sollte ein Mitgliedsstaat angegriffen werden, kommen die anderen Bündnispartner und besonders die USA zu Hilfe, so als ob sie selbst angegriffen worden wären. Zugleich hat Russland die Hemmschwelle zum Einsatz von Atomwaffen herabgesetzt mit der Überarbeitung seiner Nukleardoktrin. Im Bezirk Kaliningrad, also an der Ostsee, hat es atomwaffenfähige Trägerraketen stationiert (ob auch Atomsprengköpfe, ist unklar).
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Nun tritt außerdem Trump das Amt des US-Präsidenten an. Er hat Ursula von der Leyen schon gedroht: "Sie müssen verstehen: Wenn Europa angegriffen wird, werden wir Ihnen niemals zu Hilfe kommen und Sie unterstützen." Das war schon das Argument, mit dem Charles de Gaulle die französische nukleare Rüstung gerechtfertigt hat: Sollte Moskau Paris angreifen, würden dann die USA tatsächlich einspringen – und eine sowjetische Bombe auf New York riskieren?
Deshalb hat sich auch Friedrich Merz letztes Jahr für das Angebot von Emmanuel Macron ausgesprochen, dass Frankreich seinen nuklearen Schutzschirm auf ganz Europa ausdehnt. Der steht bislang nicht im Dienste der NATO, doch nun könnte Europa seine nukleare Verteidigung selbst in die Hand nehmen. Christian Lindner hatte sich bereits ähnlich geäußert, und auf europäischer Ebene lassen Manfred Weber und Katarina Barley Ähnliches verlautbaren. Es wäre ein Mechanismus zu finden, der klärt, welcher Europäer wann den roten Knopf drücken sollte, doch daran würde das Projekt eines EU-Atomwaffenprogramms wohl nicht scheitern.
Doch haben diese Politiker:innen die Konsequenzen genügend bedacht? Mit Marine Le Pen könnte bald eine Freundin Wladimir Putins den Oberbefehl über das französische Militär erlangen. Unterdessen sind im britischen Atomprogramm die letzten beiden Raketentests gescheitert. Wie Trump wirklich einzuschätzen ist, muss sich teilweise noch zeigen. Vielleicht blufft er und würde sich auch mit mehr Geld zufrieden geben. Meiner Meinung nach sollte man sich nicht vorschnell von den USA verabschieden und vollendete Tatsachen schaffen. Außerdem würde eine neue europäische Selbständigkeit in der atomaren Abschreckung auch das internationale nukleare System betreffen. Rückbauen würden die USA ihr Arsenal wohl nicht, obwohl sie weniger Fläche verteidigen müssten. Doch die 520 Atomsprengköpfe, über die Frankreich und Großbritannien zusammengenommen verfügen, werden die Europäer wohl bald als zu wenig erachten. Die USA und Russland haben jeweils einzeln etwa zehn mal so viele, und China arbeitet daran, seine Anzahl von etwa 500 zügig zu verdoppeln. Natürlich wollen sich deutsche Politiker nicht von Trump erpressen lassen, und so zeigen sie ihm: Wir können auch anders. Aber das ist nicht nur eine Angelegenheit zwischen Trump und Europa, sondern hat Auswirkungen auf das internationale System des nuklearen Wettrüstens.
Bei der internationalen Rüstungskontrolle geht es um die Logik des Wettrüstens als eines größeren Prozesses und nicht allein um die strategischen Wechselwirkungen zwischen zwei oder drei Staaten oder Bündnissen. Könnte Europa als eigenständiger Akteur überhaupt im Wettrüsten mit Russland mithalten – wäre eine europäische Aufrüstung jemals ausreichend? Andererseits: Wenn nun Europa mit der nuklearen Aufrüstung ernst machen würde – würden wir dann dem internationalen nuklearen Wettrüsten nicht dramatisch an Fahrt verleihen? Nicht nur die USA, Russland und China rüsten deutlich auf, auch Nordkorea tut das. Der Iran und Saudi Arabien wollen ebenfalls dringend "die Bombe" haben. Auch in Südkorea gibt es ernsthafte Überlegungen. Dann fragt sich noch, wie die übrigen Nuklearmächte reagieren – Israel, Indien und Pakistan. Mit einer eigenen Initiative der Aufrüstung würde sich Europa tendenziell von der Möglichkeit verabschieden, sich als mäßigende Kraft zugunsten der internationalen Verständigung und der Rüstungskontrolle einzusetzen.
Ein Gleichgewicht des Schreckens?
Was ist aber so prekär am Wettrüsten? Man könnte meinen: Kam es nicht in den 80ern zum Tauwetter, gerade weil die USA das Wettrüsten forciert hatten und die UdSSR durch Härte zum Nachgeben nötigten? Die Falken stellen Aufrüstung ja als Friedenssicherung dar. Bis Anfang der 80er lief es vielleicht so. Das Gleichgewicht des Schreckens kann der Aggression entgegenwirken: Wer den Bogen überspannt, muss mit härtesten Konsequenzen rechnen – und lässt es deshalb. So spricht die Härte der Abschreckung aus der Erklärung von Reagan und Gorbatschow: "Einen nuklearen Krieg kann niemand gewinnen, und er darf niemals ausgefochten werden."
Zugleich aber ist das eine Warnung, das Wettrüsten nicht weiterzubetreiben, sondern einen Schritt vom Abgrund wegzutreten. Der nukleare Gegenschlag kann nämlich auch auf einer Überreaktion in einem "konventionellen" Konflikt beruhen – oder sogar auf einem bloßen Missverständnis! So kam es 1983 zu einem Fehlalarm, als ein Computer in der sowjetischen Luftraumüberwachung eine Lichtreflexion des Sonnenaufgangs als amerikanischen Raketenstart interpretierte. Aber für den Fall eines westlichen Raketenangriffs sah die Lehre vom Gleichgewicht des Schreckens vor, dass die UdSSR unverzüglich mit einer eigenen Atomrakete reagiert. Dass es dazu nicht kam, war in letzter Minute nur der individuellen, beinahe zufälligen Einzelentscheidung des sowjetischen Oberstleutnants Stanislaw Petrow zu verdanken. Auch unsere heutige künstliche Intelligenz soll nicht ganz frei von Fehlleistungen sein.
Möglich auch, dass die internationalen politischen Akteure nicht so strategisch-rational sind, wie es die Lehre vom Gleichgewicht des Schreckens voraussetzt. Sind Putin, Kim Jong-un und Trump tatsächlich so vernünftig und vorausschauend, dass sie um der Konsequenzen willen vor krasser Gewalt zurückschrecken? Außerdem legt das Gleichgewicht des Schreckens den Gedanken nahe: Man könnte die vermeintlich legitimen eigenen Anstrengungen verdoppeln, um das Gleichgewicht in eigene Dominanz zu verwandeln – eine solche Erstschlagkapazität zu erreichen, die einen Vergeltungsschlag des Gegners unmöglich macht, oder aber sich mit einem vermeintlich perfekten Abwehrsystem vor den Raketen des Gegners zu schützen und dann erst recht Dominanz auszuüben. Vermutlich sind solche Versuche nicht realistisch. Aber das ist zweitrangig! Entscheidend ist, wie der Gegner mein Wollen und Tun einschätzt. Und der könnte sich in seiner Wahrnehmung zu einem Präventivschlag geradezu gezwungen sehen – ob aufgrund von Paranoia oder Realismus ist nicht wesentlich. Und schließlich macht die heutige Vielzahl der Nuklearmächte die Angelegenheit viel komplizierter. Also: Zwar verheißt die verstärkte nukleare Abschreckung einen Sicherheitsgewinn, aber sie schafft selbst neue Sicherheitsrisiken!
Ausblick
Wenn Staaten neue atomare Rüstungsinitiativen in Europa diskutieren, ist größte Vorsicht angezeigt. Ich bin mir nicht sicher, ob Merz und Co. die weitere Problematik der internationalen nuklearen Sicherheitsarchitektur ausreichend bedenken. Eine europäische Nuklearinitiative würde Putins Opfererzählung sehr stärken, die ihm zur Legitimation der eigenen Gewalttaten dient.
Könnte es dagegen neue Initiativen zur Rüstungskontrolle geben? Zwar ist der UN-Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 ein Hoffnungsschimmer. Doch zu viele Staaten zeigen daran kein Interesse, einschließlich aller Atommächte. Die Hoffnung, Atomwaffen ganz abzuschaffen, halte ich für unrealistisch, denn in einer nicht-nuklearen Welt werden viele Staaten die Überlegenheit der USA mit konventionellen militärischen Mitteln als zu krass empfinden. Eine schrittweise Abrüstung wäre zu wünschen, doch wie sich das erreichen ließe, ist unklar.
Was soll die deutsche und die europäische Politik also tun? Dass Trump sich den Verteidigungsverpflichtungen im Rahmen der NATO entzieht, ist zwar nicht ausgemacht, aber doch möglich. Für die am ehesten vertretbare Lösung halte ich, wie Deutschland in dieser Situation bereits in Raketenabwehrsysteme aus Israel investiert. Die Systeme sind konventioneller, defensiver Natur und eignen sich zur Abwehr nuklearer Mittelstreckenraketen. Sie halten der EU am ehesten den Weg offen, sich für Verständigung einzusetzen – und, wer weiß, eines Tages womöglich gar für Abrüstungsinitiativen. Reichen konventionelle Abwehrsysteme als Sicherheitsstrategie aus? Das kann ich nicht beurteilen. Zumindest sind sie eine gute Reaktion auf Trumps Provokation. Verhandeln wir zunächst mit ihm weiter. Wer aber über europäische Atomwaffen spricht, ohne auf die Probleme des Wettrüstens hinzuweisen und ohne diese Abwehrsysteme zu erwähnen, hat nicht genug über die Problematik nachgedacht. Auch wenn das Risiko anderer Art ist als die Klimakrise, dürfte das nukleare Wettrüsten vermutlich die dringendste Bedrohung sein, der unser Planet im Augenblick ausgesetzt ist.