"Ich muss den Menschen zeigen, dass wir mit Atomwaffen den Weg ins Unglück einschlagen", sagt Ulrich Gottstein. Der Mediziner ist 88 Jahre alt und hat einen wachen Blick. Und er brennt noch immer für sein Ideal einer atomwaffenfreien Welt: Zu den 70. Jahrestagen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August erstellte er in monatelanger Arbeit eine Ausstellung, die derzeit in Frankfurt zu sehen ist.
Der hagere, rüstige Mann mit dem schütteren weißen Haar hat viel erlebt und viel bewegt: Der gebürtige Stettiner war während mehrerer Alliierten-Luftangriffe in Berlin, kämpfte im Zweiten Weltkrieg in Frankreich und geriet in britische Kriegsgefangenschaft. Von 1971 bis 1991 leitete Gottstein als Chefarzt für innere Medizin das Frankfurter Bürgerhospital. Er gab den Anstoß zur Errichtung des Evangelischen Hospitals für Palliativmedizin, das dritte seiner Art in Deutschland.
"Wir brauchen kein Verteidigungs-, sondern ein Friedensministerium"
Und er ist einer der Mitbegründer der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Für Gottstein ist all das kein Grund, sich auszuruhen. Im Gegenteil: Er hält weiter Vorträge und diskutiert mit Leidenschaft.
Die größte Bedrohung für den Frieden sieht Gottstein im zunehmenden Nationalismus und der fehlenden Bereitschaft, mit politischen Gegnern zu kommunizieren: "Was wir brauchen ist kein Verteidigungs-, sondern ein Friedensministerium mit Psychologen und Politologen, die aufflackernde Konflikte erkennen und eingreifen, bevor aus dem Flämmchen ein Feuer wird", fordert er.
Anfang der 80er Jahre war Gottstein in Kontakt mit Bernard Lown gekommen, dem Initiator der IPPNW. Der habe ihn schließlich überzeugt, dass eine engagierte Ärzteschaft über die politischen Blöcke hinweg im Kalten Krieg gegen Nuklearwaffen protestieren müsse. "Damals wurde alle paar Tage eine Atombombe getestet und die Gefahr eines Atomkriegs wuchs", erklärt Gottstein.
Für sein Engagement musste er auch Kritik einstecken. Regelmäßig haben Unionspolitiker ihm und der IPPNW in den 80er Jahren vorgeworfen, die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik zu untergraben. Doch auch in den eigenen Reihen wurde Protest laut, als die IPPNW sich in der "Frankfurter Erklärung" weigerte, sich in Kriegsmedizin für den Fall eines atomaren Konflikts ausbilden zu lassen.
"Ich bin einfach Arzt aus Leidenschaft"
"Wir haben damals klar gesagt: Wir werden euch nicht helfen können, denn Atomkriegsmedizin ist eine Farce", erläutert Gottstein. Es sei Betrug, der Bevölkerung vorzuspielen, Ärzte könnten nach einem Atomkrieg noch etwas ausrichten. Noch dazu wäre die Signalwirkung verheerend gewesen. "Das hätte die Schwelle zu einem Atomkrieg wieder etwas gesenkt."
Gottstein erntete Respekt. Einen "Überzeugungstäter" und "Mann mit Rückgrat" nannte ihn der ehemalige Ärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe bei der Verleihung der Paracelsus-Medaille 2011. Gottstein selbst sagt dazu: "Man sollte mich nicht frommer machen als ich bin." Und fügt hinzu: "Ich bin einfach Arzt aus Leidenschaft." Schon in den 80er Jahren erhielt er mit seinen Mitstreitern die höchste Ehre: 1985 wurde die IPPNW mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gottstein war bei der Verleihung dabei und hielt eine Dankesrede im Osloer Rathaus.
"Wenn arme Menschen das aushalten, dort zu leben, dann kann man auch selber Courage zeigen"
Jahrzehntelang ist der Arzt zu Hilfseinsätzen in Krisengebiete gereist. Er fuhr während der Jugoslawien-Kriege ins belagerte Sarajewo und nach Mostar in Bosnien-Herzegowina, neun Mal war er im Irak. "Wenn arme Menschen das aushalten, dort zu leben, dann kann man auch selber Courage zeigen", sagt Gottstein, der seit 61 Jahren mit seiner Frau Monika verheiratet ist. "Ich habe immer gebetet, dass mir nichts passiert. Allerdings war ich auch nie leichtsinnig."
Herbe Rückschläge habe es in seinem Leben nicht gegeben. "Enttäuschungen schon, aber daran bin ich gewachsen", sagt er. "Letztlich hat der liebe Gott immer geholfen, dass ich den richtigen Weg gefunden habe."