Das Landgericht hatte die heute 99-jährige Irmgard F. 2022 wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und versuchtem Mord in fünf Fällen zu einer auf Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Dagegen hatte sie Revision eingelegt, die vom fünften Strafsenat des BGH in Leipzig am Dienstag verworfen wurde. (AZ: 5 StR 326/23)
Laut Anklage war die KZ-Zivilangestellte im Alter von 18 und 19 Jahren von 1943 bis 1945 als Sekretärin und Stenotypistin in der Verwaltung des Konzentrationslagers bei Danzig beschäftigt. Ihre Verteidigung hatte einen Freispruch gefordert, weil nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden könne, dass Irmgard F. von den systematischen Tötungen im Lager gewusst habe.
Dies wurde vom BGH zurückgewiesen. F. sei zwar keine Haupttäterin, trotzdem treffe sie Schuld, sagte die Vorsitzende Richterin Gabriele Cirener. Die Frau sei als Sekretärin des KZ-Lagerkommandanten freiwillig tätig gewesen. Dort habe sie zahlreiche lagerinterne Schreiben und Anweisungen des Kommandanten getippt. Während ihrer Tätigkeit seien in dem KZ mindestens 9.000 Menschen ums Leben gekommen.
Auch Beihilfe sei untrennbar mit der Haupttat verknüpft, sagte die Vorsitzende Richterin. Auch gebe es eine klare Antwort des Gesetzgebers bei lange zurückliegenden Taten: Straftaten würden zwar grundsätzlich verjähren, Mord aber nicht. Damit sei auch Beihilfe zum Mord von einer Verjährung ausgeschlossen.
"Das fehlende Schuldeingeständnis wiegt schwer"
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, befürwortet die Entscheidung des Gerichts: "Es geht nicht darum, sie für den Rest ihres Lebens hinter Gitter zu stecken. Es geht darum, dass sich eine Täterin für ihre Taten verantworten und Worte finden muss, für das, was geschehen ist und für das, woran sie beteiligt war." Als Sekretärin im KZ Stutthof sei Irmgard F. eine bewusste Gehilfen der nationalsozialistischen Mordmaschinerie und verantwortlich für die Ermordung tausender Menschen. Für Schoa-Überlebende sei es enorm wichtig, dass eine späte Form der Gerechtigkeit versucht werde. "Umso schwerer wiegt das fehlende Schuldeingeständnis der Täterin", so Schuster. Es stehe beispielhaft für die überwiegende Mehrheit der NS-Täter und Täterinnen, die unbehelligt ihr Leben fortführen konnten, ohne strafrechtliche Konsequenzen für ihre grausamen Verbrechen fürchten zu müssen. Schuster: "Das Rechtssystem hat heute eine klare Botschaft gesendet: Auch fast 80 Jahre nach der Schoa, darf kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen werden. Mord verjährt nicht - weder juristisch, noch moralisch."
Der Geschäftsführer des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, erklärte, für Überlebende der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager sei die Gerichtsentscheidung von großer Bedeutung. Erinnerungen, Beobachtungen und Aussagen von Zeitzeugen hätten zur Wahrheitsfindung beigetragen und seien in die Urteilsfindung eingegangen. Angesichts der wenigen Täter, die überhaupt in Deutschland vor Gericht gestanden hätten, komme dem Urteil eine besondere Bedeutung zu.
Irmgard F. arbeitete laut BGH von 1943 bis 1945 im KZ Stutthof als einzige Stenotypistin im Büro des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe (1919-1974). Sie habe dort den gesamten Schriftverkehr organisiert, vertrauensvoll mit der Lagerleitung zusammengearbeitet und diese physisch und psychisch unterstützt. Sie habe zum inneren Kreis gehört und aus Solidarität mit den Haupttätern gehandelt.
Nach Angaben des Leiters der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Thomas Will, sind derzeit noch drei Verfahren gegen mutmaßliche NS-Täter anhängig. Die Beschuldigten seien zwischen 99 und 101 Jahren alt, ihre Verhandlungsfähigkeit stehe infrage, sagte er.