Ins Leben gerufen hat das Projekt namens "Inside Pogromnacht" die Claims Conference (New York), die seit 1951 die Interessen von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus vertritt. Die Begegnung mit virtuellen Zeitzeugen, wie etwa Knobloch, sehe er als eine "emotionalisierte Form", künftige Generationen an das Thema heranzuführen, sagte Rüdiger Mahlo, der die Claims Conference in Europa vertritt, bei der Vorstellung des Projekts in München.
Die 92-jährige Charlotte Knobloch ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und hatte als Kind die Reichspogromnacht in ihrer Heimatstadt München miterlebt. Die NS-Zeit hatte sie nur überlebt, weil sie als uneheliches Kind einer katholischen Frau in Mittelfranken ausgegeben wurde und fortan unter dem Namen Lotte Hummel lebte.
Für das internationale Projekt beantwortete die "echte" Charlotte Knobloch rund 1.000 Fragen auf Deutsch und Englisch. Eine Künstliche Intelligenz (KI) setzt aus diesem Pool die passende Antwort auf die Fragen der User zusammen - und die virtuelle Charlotte Knobloch beginnt, in einem Sessel sitzend, zu erzählen.
Das Projekt ist browser-basiert - entweder man klickt sich vor dem Bildschirm durch das München von 1938 oder man setzt eine VR-Brille auf. Neben der face-to-face-Begegnung mit Knobloch bekommt man historische Videosequenzen oder Erklärtexte zu sehen. Immer wieder spricht auch Knobloch und führt durch die Straßen, an einen Kiosk, in ein Klassenzimmer oder einen Spielplatz, den sie als "Judenkind" nicht mehr betreten durfte.
In naher Zukunft werde es keine Zeitzeugen mehr geben, erläuterte Rüdiger Mahlo die Beweggründe für das Projekt. Dazu komme das abnehmende Wissen über die NS-Zeit und der steigende Antisemitismus weltweit. Er hoffe daher, dass auch viele Schulen das Online-Projekt im Unterricht nutzen werden.
Als erste Schule weltweit - noch vor dem eigentlichen Starttermin - durfte der Geschichtskurs des städtischen St.-Anna-Gymnasiums in München "Inside Pogromnacht" ausprobieren. Die beiden 17-jährigen Schülerinnen Anastasia und Pamina zeigten sich angetan. Es sei wichtig, dass die NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerate - vor allem nicht in der jungen Generation, in der schon manchmal in "respektloser Weise" über die Opfer der NS-Zeit geredet werde.
Die beiden Schülerinnen finden es gut, "dass den Opfern ein Gesicht gegeben wird". Natürlich sei es etwas anderes, nur mit einem virtuellen Zeitzeugen zu sprechen. Aber die meisten Menschen hätten nun mal keine Chance mehr, einen lebenden Zeitzeugen zu treffen, von daher sei das Projekt eine "super Idee".