Der Armutsbericht, den der Paritätische Gesamtverband im Frühjahr diesen Jahres veröffentlichte, ist alarmierend. Nach einer Auswertung der Angaben des Statistischen Bundesamts verharrt die Armut in Deutschland auf hohem Niveau: Im Jahr 2023 waren gut 17,7 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das waren 21,2 Prozent der Bevölkerung. Gegenüber dem Vorjahr blieben die Werte nahezu unverändert. So waren im Jahr 2022 rund 17,5 Millionen Menschen oder 21,1 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.
Diese Zahlen betreffen auch die Debatte um das Bürgergeld, eine Sozialleistung, die das menschenwürdige Existenzminimum derjenigen sichern soll, die erwerbsfähig sind und ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen decken können. Während CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert, arbeitsunwilligen Menschen das Bürgergeld komplett zu streichen, erklärt Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch, dass fast 800.000 arbeitende Menschen ihr Gehalt mit Bürgergeld aufstocken müssen.
"Ich würde mir wünschen, dass Herr Linnemann Konzepte für den Ausbau der Kinderbetreuung und der Pflege entwickelt. Denn gerade Alleinerziehende und pflegende Angehörige, die Bürgergeld beziehen, müssen besser unterstützt werden", so Schuch in einer Pressmitteilung vom 29. Juli. Die Armut trifft aber nicht nur Erwachsene, die arbeitslos sind oder erwerbsfähig sind und dennoch ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen decken können, sondern auch Kinder.
Zum Stichtag 1. August 2023 ist mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland dem Bericht der Paritätischen Wohlfahrt zufolge von Armut betroffen. Der Wert von fast 22 Prozent ist demnach ein Allzeithoch. Drei Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Schuld an der Zunahme ist laut Save the Children die Lebenshaltungskostenkrise. In ihrem Bericht zeigt die Hilfsorganisation auf, wie sich die Inflation auf Kinderarmut in Deutschland auswirkt. Demnach steige die Gefahr der Mangelernährung mit lebenslangen Folgen. Zeitgleich sei der Zugang zu Bildung, Freizeit und sozialer Teilhabe für Kinder gefährdet.
Kindergrundsicherung noch in der Schwebe
Während Save the Children Vorschläge macht, was getan werden muss, um die Situation für Kinder zu verbessern, pocht der Paritätische Wohlfahrtsverband, auf eine adäquate Kindergrundsicherung. Viel Kritik kommt auch seitens des Sozialverbands VdK. VdK-Präsidentin Verena Bentele kritisierte Ende Juli die von der Ampel-Koalition geplanten Schritte zur Unterstützung bedürftiger Kinder als unzureichend. Mit der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Kindergrundsicherung hätten die aktuellen Vorhaben "nichts zu tun", so Bentele.
Der Gesetzesentwurf zur Kindergrundsicherung hängt laut einem Bericht der Evangelischen Pressedienstes am 27. Juli im Bundestag fest, weil SPD, FDP und Grüne unterschiedliche Ziele ins Zentrum stellen. Das Kindergeld soll zwar 2025 um fünf Euro angehoben werden, ebenso der Kinderzuschlag. Für die Kindergrundsicherung, die im Bundestag verhandelt wird, gibt es bisher im Bundeshaushalt keine Position. Im Haushaltsentwurf würden notwendige Mittel zum Beispiel für die Bekämpfung von Kinderarmut und eine "echte Kindergrundsicherung fehlen, kritisierte Diakonie-Vorständin Maria Loheide.
Pfandflaschen sammeln gehört zum Alltag
Während ein Fünftel der Armen Kinder sind, gehen fast zwei Drittel der erwachsenen Armen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente. Doch die staatliche Unterstützung beziehungsweise Rente reicht scheinbar bei vielen nicht mehr. "Mehr Menschen in Deutschland sammeln Pfandflaschen, um sich etwas dazuzuverdienen", sagt Pascal Fromme, Projektleiter der Fritz-Kola-Initiative "Pfand gehört daneben". Laut der aktuellen Studie gibt es 2024 hierzulande hochgerechnet fast 1,2 Millionen Pfandsammler und damit 13,4 Prozent mehr als im September 2022 (1,03 Millionen).
"Es gibt nicht diese eine typische Person, die Pfand sammelt, es ist in allen Gesellschaftsschichten ein Thema"
"Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer noch höher ist", sagt Fromme. Besonders durch die gestiegenen Lebenshaltungskosten kämen viele Menschen mit ihrem Geld nicht mehr aus. Fast ein Drittel der Pfandsammler (31 Prozent) haben 2024 erstmals Leergut mitgenommen, 36 Prozent sammeln öfter und mehr Pfand als zuvor. Für die meisten bleibt es ein Gelegenheitsjob, ergab die Studie. Nur 16 Prozent der befragten Sammler sind täglich unterwegs. Dabei seien nicht alle Flaschensammler unbedingt auch immer Obdachlose, weiß Fromme.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
"Es gibt nicht diese eine typische Person, die Pfand sammelt, es ist in allen Gesellschaftsschichten ein Thema", so der Projektleiter. Fast die Hälfte der Pfandsammler (43 Prozent) hätten Abitur oder Fachhochschulreife. Auch das verbreitete Bild in der Bevölkerung, dass die meisten von ihnen obdachlos seien, passe nicht, erläutert Fromme: "67 Prozent der befragten Pfandsammler sind nicht obdachlos und waren es auch noch nie." 33 Prozent der Pfandsammler sind erwerbstätig, 23 Prozent bekommen eine Rente.
Wohngeldempfänger nehmen zu
Dass das Geld bei vielen Familien nicht mehr reicht, zeigt auch die Zunahme der Wohngeldempfänger: Innerhalb eines Jahres hat sich beispielsweise in Hamburg laut dem Statistikamt Nord von Ende Juli die Zahl der wohngeldempfangenden Haushalte mehr als verdoppelt. Ende 2023 erhielten in der Hansestadt 27.205 Haushalte Wohngeld und damit 103 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl der unterstützten Haushalte von Erwerbspersonen erhöhte sich in Hamburg innerhalb eines Jahres um 94 Prozent auf 12.810, die von Nichterwerbspersonen wie Rentnerinnen, Rentnern, Studierenden und Arbeitslosen um 111 Prozent auf 14.395. In Schleswig-Holstein ist die Zahl der wohngeldempfangenden Haushalte innerhalb eines Jahres um 77 Prozent gestiegen, der durchschnittliche monatliche Anspruch nahm zwischen Ende 2022 und Ende 2023 um 54 Prozent auf 302 Euro zu.
Für die Hamburger Gewerkschaft DGB liege mit den gestiegenen Zahlen das Grundproblem auf der Hand: "Das Einkommen der Menschen muss zum Leben reichen, ohne dass sie zusätzliche Unterstützung beantragen müssen", sagte Hamburgs DGB-Vorsitzende Tanja Chawla. Neben der Erhöhung der Tarifbindung und Tarifverträgen für höhere Löhne müsse ein Mietenstopp dafür sorgen, dass die Preise für Wohnraum nicht weiter steigen: "Das Wohngeld darf nicht dazu dienen, überhöhte Mieten mit öffentlichen Geldern zu bezahlen und eine soziale Mietenpolitik hintenanzustellen", sagte Chawla. Sie forderte einen sechsjährigen Mietenstopp, den Bau von Sozialwohnungen und eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit.
Zu diesem Armutsanstieg kommt die steigende Anzahl der Schließungen von sozialen Einrichtungen. So muss die Bahnhofsmission am Magdeburger Bahnhof beispielweise ihre Öffnungszeiten beschneiden, da Personal fehlt. Die rund 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland werden vor allem von Ehrenamtlichen getragen. Doch die sind mittlerweile knapp - und das hat konkrete Folgen für Menschen mit wenig Geld, Obdachlose oder Hilfesuchende, die in den Missionen eine warme Mahlzeit, Beratung oder einen Schlafplatz erhalten. "Unser Ziel ist eigentlich, täglich von 8 bis 18 Uhr zu öffnen", sagt Leiter Florian Sosnowski am 30. Juli dem Evangelischen Pressedienst (epd). Doch dafür fehle das Personal.
Immer mehr soziale Einrichtungen am Limit
Rund 35 Ehrenamtliche seien es mal gewesen, jetzt seien sie etwa acht Leute, die jede Woche den Laden aufrechterhalten. Über die Gründe kann er nur spekulieren. "Wir leben in unsicheren Zeiten. Viele achten jetzt mehr auf sich selbst", meint der Caritas-Mitarbeiter. Auch andernorts ist es schwierig, Helfer zu finden. Benita Lanfermann leitet seit einigen Jahren die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof in Dessau. Seit gut anderthalb Jahren ist hier nur noch stundenweise geöffnet: Wochentags von 8 bis 14 Uhr, am Wochenende stehen die Gäste vor verschlossenen Türen. Eine Ehrenamtliche sei noch übrig, erzählt die Leiterin - die komme einmal in der Woche. Neues Personal zu finden, sei nicht so einfach. "Immer weniger sind bereit, bestimmte Arbeiten zu machen", meint Benita Lanfermann.
Auch in den Kirchengemeinden habe man schon um Nachwuchs geworben - ebenfalls ohne Erfolg. Dabei bedeute der christliche Glaube doch gerade, Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu leben, sagt Lanfermann. Die Bahnhofsmission in Gießen muss nach 100 Jahren ganz schließen. Wie auch die Diakonie kämpfen zahlreiche andere Hilfsorganisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband darum, weiterhin die sozial Schwachen zu unterstützen: mit Mahlzeiten, anderen Hilfsangeboten und vor allem einem offenen Ohr. Auch die evangelischen Gemeinden verschließen nicht die Augen vor der wachsenden Armut. Welche Hilfsangebote sie anbieten, wird evangelisch.de am Freitag vorstellen.