evangelisch.de: Herr Thomas de Vachroi, Landesbischof Christian Stäblein hat Sie heute offiziell für die neue Funktion des Armutsbeauftragten der Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vorgestellt. Warum gerade jetzt erst?
Thomas de Vachroi: Das Thema ist definitiv nicht neu! Ich bin seit 2017 Armutsbeauftragter des Diakoniewerkes Simons und seit 2021 auch des Kirchenkreises Neukölln. Wir haben jetzt festgestellt, dass das nicht mehr ausreicht und wir jemanden brauchen, der etwas auf Landesebene bewegt. Die Armut wird immer sichtbarer und wir müssen das Thema hinaustragen, nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich agieren.
Die Armut ist nicht nur in der Stadt gestiegen, sondern auch auf dem Land. Von der Miete über Lebensmittel bis hin zu den Energiekosten - Menschen können sich das Leben nicht mehr leisten. Deswegen ist uns das wichtig, dass alle Kirchengemeinden einen Ansprechpartner einsetzen, wenn es um Armut geht - nicht nur um Obdachlose, sondern auch um Seniorenarmut, also Altersarmut, es geht um Alleinstehende, Kranke, die sich in unserem Land in Not befinden.
Was ist das größte Problem für die Betroffenen? Gesellschaftliche Ausgrenzung? Scham? Wissen sie nicht, an wen sie sich wenden sollen?
de Vachroi: Ich glaube, es ist eine Mischung aus vielen Faktoren. Natürlich spielt die Scham eine große Rolle, die Angst nach draußen zu gehen, aber auch die Unsicherheit Ämtern gegenüber. Viele denken, sie müssen nach Almosen fragen, dabei ist die Unterstützung ihr Recht, das steht ihnen zu. Viele können es aber nicht verkraften, dass sie jetzt in einer Notlage sind und nach Geld und Unterstützung fragen müssen.
"Die Betroffenen gehen kaum noch weg und isolieren sich mehr und mehr."
Entscheidend ist auch der gesellschaftliche Faktor: Viele Betroffene wollen nicht zugeben, dass sie sich in einer Notlage befinden – das merke ich oft in Gesprächen. Sie denken: "Na ja, ich bin zwar arm, aber ich komme schon zurecht." Das Zurechtkommen ist ja genau das Problem, denn dann besteht die Gefahr, dass sie sich immer mehr isolieren. Die Menschen besuchen sich dann nicht mehr gegenseitig, weil das Stück Kuchen, das sie gerne dem Besuch anbieten möchten, Geld kostet. Und das hängt alles zusammen. Die Betroffenen gehen kaum noch weg und isolieren sich mehr und mehr.
Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
de Vachroi: Die Gesellschaft hat es noch nicht verinnerlicht, dass Armut dazu gehört. Sie hat es nicht verinnerlicht, wie viele Menschen Probleme haben, keine Nahrungsmittel haben. Armut ist keine Schande und man muss darüber reden. Die Gesellschaft muss sich damit auch auseinandersetzen können, deswegen fordere oder wünsche mir, dass das ein freiwilliges Schulfach wird, wie Ethik eben. Schon in der Grundschule sollte vermittelt werden, was Migration und Armut bedeuten. Denn Kinder, die heute in der Armut sind, die bleiben auch an der Armut. Die kommen nicht mehr raus aus dieser Armut, das ist wie so ein Hamsterrad.
Das ist eine große Herausforderung für alle, aber ich finde es wichtig, dass nicht nur die Politik reagiert oder die kommunalen Entscheidungsträger. Es gibt zwar viele gesellschaftliche Gruppierungen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, aber der Durchschnittsbürger tut sich schwer mit dem Wort Armut und weiß zum Teil gar nicht, was sie bedeutet. Bei der Frage "Was ist Armut?" denken viele an die hungernden Kinder in Bangladesch. Aber das kann man gar nicht vergleichen.
Deutschland ist ein reiches Land, wir haben uns auf die Fahne geschrieben, ein Sozialstaat zu sein und alle Menschen mitzunehmen. Das ist aber nicht mehr der Fall! Wir hatten schon vorher Armut, aber durch die Corona-Pandemie wurde sie extrem sichtbar. Als während des Lockdowns die Straßen leergefegt waren, hat man vermehrt diejenigen Menschen gesehen, die sich nicht zu Hause zurückziehen konnten, da sie keines hatten. Viele Menschen haben dies wahrgenommen und sich gefragt: "Was sind denn das überhaupt für Menschen? Wo kommen denn die jetzt plötzlich alle her?" Und diese Fragen gilt es jetzt anzupacken, damit ein breiteres Verständnis in der Gesellschaft aufgebaut wird.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Und was erwarten sie von der Politik?
de Vachroi: Wir haben ja eine riesige Teuerungswelle seit Jahren, die nicht mehr mithält mit dem Lohngefüge dieses Landes. Und der Mindestlohn? Man kann sich ausrechnen, was der Mindestlohn bedeutet, wenn man in Großstädten wie Berlin lebt, Hamburg und Frankfurt. Aber auch in den ländlichen Bereichen ist alles teurer geworden. Zudem gibt es dort eine schlechte Infrastruktur. Wie sollen die Menschen von A nach B kommen, wenn sie einer Arbeit nachgehen? Also, es ist total verrückt!
Wir unterstützen die Armen mit Bürgergeld, aber das reicht nicht mehr. Wir müssen eine andere Struktur finden, vor allem für den Wohnungsmarkt, wo die Mieten einfach absurd sind. So muss beispielsweise eine Mietpreisbremse auch für möblierte Wohnungen her. Ich plädiere auch dafür, die Mehrwertsteuer wegzunehmen von den Grundnahrungsmitteln, den existenziellen Bedürfnissen wie Wasser, Strom und Heizung. Es darf nicht sein, dass Menschen im Winter sich die Heizung nicht leisten können. Vor allem aber brauchen wir eine Armutsbeauftragte oder einen Armutsbeauftragten auf Bundesebene, die oder der auch etwas zu sagen hat und nicht nur beratend arbeitet.