Norbert Lammert
Gerd Seidel
Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) spricht im Interview über sein neues Buch mit dem Titel "Glaube braucht Vernunft".
Interview zu Glaube und Reformen
Norbert Lammert: Kirche muss sich auf Neues einlassen
In einer Zeit gesellschaftlichen Wandels und abnehmender Kirchenmitglieder stellt sich die Frage nach der Rolle der Kirche in der modernen Welt. Norbert Lammert (CDU), ehemaliger Bundestagspräsident und Autor des Buches "Glaube braucht Vernunft", erläutert im Gespräch mit evangelisch.de die Notwendigkeit von Reformen innerhalb der Kirche. Lammert spricht über mehr Mitbestimmung der Gläubigen, die Bedeutung einer intelligenten Verbindung von Kirche und Staat und die Verantwortung der Kirche, sich den Herausforderungen der heutigen Zeit anzupassen.

evangelisch.de: Herr Dr. Lammert, in Ihrem Buch "Glaube braucht Vernunft" betonen Sie die Notwendigkeit von Reformen in der Kirche und die Bedeutung einer "intelligenten Verbindung" von Kirche und Staat. Welche spezifischen Reformen sehen Sie als wichtig an, um diese Verbindung zu stärken und die Rolle der Kirche in der Gesellschaft zu festigen?

Norbert Lammert: Ich plädiere für beides: sowohl eine intelligente Verbindung als auch eine sorgfältige Trennung von Politik und Religion. Religion ist zunächst eine reine Privatangelegenheit, aber sie hat immer auch gesellschaftliche Bedeutung und sie muss nach ihrem Selbstverständnis immer auch mehr sein als eine reine Privatangelegenheit – und nach allen historischen Erfahrungen ist sie es auch immer gewesen. 

Als das Grundgesetz beraten und verabschiedet wurde vor 75 Jahren mit dem eindrucksvollen Bekenntnis der "Verantwortung vor Gott und den Menschen" in der Präambel, gehörten über 90 Prozent der Bevölkerung einer der christlichen Kirchen an. Im Jubiläumsjahr 2024 sind es erstmals weniger als 50 Prozent. Das hat Folgen für die gesellschaftliche Relevanz wie die politische Wahrnehmung. Beinahe überall lässt sich das beobachten: Schwangerschaftskonfliktregelung, Präimplantationsdiagnostik, Beschneidung, Kopftücher, Kruzifixe im öffentlichen Raum usw.

Bei einer Reihe von Fragen ist der religiöse Zusammenhang offenkundig oder gar unbestreitbar und weder die eine noch die andere Seite kann sich ihrer jeweiligen Verantwortung entziehen. Dennoch hat man den Eindruck, dass die Kommunikation zwischen Politik und Kirchen nicht immer reibungslos funktioniert.

Dem müssen die Kirchen durch überzeugende Öffnung nach innen wie nach außen Rechnung tragen: Abbau hierarchischer Strukturen, neue Beteiligungsformate für engagierte Laien, Öffnung von Weiheämtern auch für Frauen (in der katholischen Kirche), transparente Finanzen. Der Einfluss der Kirchen auf politische Entscheidungen mit hoher ethischer Bedeutung wird auch nicht größer, wenn sie zu gleichen Fragen – wie zum Beispiel bei der Suizidassistenz – unterschiedliche Positionen beziehen.

"Der Einfluss der Kirchen auf politische Entscheidungen mit hoher ethischer Bedeutung wird auch nicht größer, wenn sie zu gleichen Fragen – wie zum Beispiel bei der Suizidassistenz – unterschiedliche Positionen beziehen"

Die Verantwortung, die wir Christen nicht nur als Staatsbürger im politischen System unserer Gesellschaft haben, und die Verantwortung, die wir in unseren jeweiligen Kirchen haben, können sich wechselseitig nicht ersetzen, aber ergänzen. Die Wahrnehmung der einen Verantwortung schließt die andere nicht nur nicht aus, sondern setzt sie in einem gewissen Umfang geradezu voraus.

Sie sprechen von einer "aufgeklärten Herde" und fordern mehr Mitbestimmung innerhalb der Kirche. Welche konkreten Maßnahmen könnten ergriffen werden, um die Gläubigen aktiver in die Entscheidungsprozesse der Kirche einzubeziehen und somit eine aufgeklärte Gemeinschaft zu fördern?

Lammert: Es gibt eindrucksvolle Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils wie auch der nationalen Synoden, die Position beziehen zu den Themen Würde, Verantwortung, Förderung, Übertragung von Aufgaben, Freiheit und Raum im Handeln. Sie wären noch eindrucksvoller, wenn sie in der Realität der Kirche in den vergangenen sechs Jahrzehnten sichtbarere Spuren hinterlassen hätten.

Hinzu kommt, dass man unterscheiden muss zwischen ethisch-moralischen Grundsatzfragen sowie Organisationsfragen, die es auch und gerade in einer Kirche gibt. Kirche ist nicht nur eine spirituelle Institution, sondern auch eine Organisation mit vielen ganz praktischen Problemen und Herausforderungen. Dass für die Beantwortung solcher Organisationsfragen – von der Abgrenzung von Kirchengemeinden, ihrer Größe und ihrem Zuschnitt bis zu damit verbundenen Finanzfragen – theologische Kompetenz die herausragende Qualifikation sei, wird niemand ernsthaft behaupten wollen. Hier geht es weniger um Glauben, sondern vielmehr um Vernunft. Auf der anderen Seite bestehen ethisch-moralische Grundsatzfragen, für die man andere Partizipationsformen braucht als für die praktischen, organisatorischen Dinge, die auch mit der Lebens- und Überlebensperspektive von Kirchen- und Religionsgemeinschaften verbunden sind.

"Kirche ist nicht nur eine spirituelle Institution, sondern auch eine Organisation mit vielen ganz praktischen Problemen und Herausforderungen"

In der vom Zweiten Vatikanischen Konzil formulierten Dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" wird ausdrücklich das Apostolat der Laien als Teilhaber an der Heilssendung der Kirche bekräftigt: "Die geweihten Hirten aber sollen die Würde und Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienst der Kirche übertragen und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen, ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen. […] Sie können mit Hilfe der Erfahrung der Laien in geistlichen wie in weltlichen Dingen genauer und besser urteilen."

Ich habe als Katholik nicht den Eindruck, dass diese Überzeugung, die vor mehr als fünfzig Jahren formuliert worden ist, den Alltag meiner Kirche wirklich prägt. Gleiches gilt für den Hinweis des amtierenden Papstes Franziskus: "Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger." Weder der ältere noch der neuere Text haben in der Realität der Kirche sichtbare Spuren hinterlassen.

"Der 'Synodale Weg' ist hierfür ein aktuelles Beispiel als ein überfälliger Neuanfang"

Ernsthafte Anläufe zur Mitwirkung der Gläubigen an der Erledigung weltlicher Angelegenheiten hat es immer wieder gegeben. Diese Prozesse sind von der etablierten kirchlichen Hierarchie über Jahrzehnte hinweg nicht nur nicht aufgegriffen, sondern zunächst ausgesetzt und schließlich ausgetrocknet worden. Der "Synodale Weg" ist hierfür ein aktuelles Beispiel als ein überfälliger Neuanfang, der innerhalb wie außerhalb der katholischen Kirche in Deutschland mit großen Erwartungen, aber auch hartnäckigem Widerstand verbunden ist.

In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass "Politik und Religion einander nicht gleichgültig sein können". Wie kann die Kirche in der heutigen politischen Landschaft eine Rolle spielen, indem sie sowohl ihre Unabhängigkeit wahrt als auch einen positiven Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen ausübt?

Lammert: In "Gaudium et spes", der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums über die Kirche in der Welt von heute, heißt es knapp und bündig: "Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben." Der meines Erachtens entscheide Halbsatz darin lautet: Zur Erfüllung ihres Auftrages kann sie "in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen […] Antwort geben".

Das ist eine doppelte Botschaft: Die Kirche muss auf solche Fragen Antworten geben, aber sie kann es nur in einer jeweils zeitgemäßen Form. Die Kirche kann ihren Auftrag, den Glauben zu bewahren, nur erfüllen, indem sie ihn der jeweiligen Zeit neu sagt. Die Frage nach der Autorität der Kirche in diesen dramatischen Prozessen der Veränderung hängt auch an ihrer Fähigkeit sowie ihrer Bereitschaft zur geschichtlichen Aktualisierung als Kirche Jesu Christi. Dazu gehört ganz wesentlich die Bereitschaft und die Fähigkeit, Neues wahrzunehmen und zuzulassen, das bislang noch nicht zur Entfaltung kommen konnte.

Hans Maier, der frühere Präsident des Zentralkomitees der Katholiken und langjährige bayrische Staatsminister für Kultur und Wissenschaften, hat einmal die kluge Bemerkung gemacht: "Zivilisationen sind sterblich, Kirchen auch." Und er hat hinzugefügt: "Nichts lässt sich auf die Dauer schützen und konservieren, wenn Geist und Leben schwächer werden und absterben. Lebendig bleibt nur, was bei den Menschen Wurzeln geschlagen hat und fortbesteht." Seit einigen Jahren ist tatsächlich unübersehbar, wie sehr die Frage der Autorität der Kirche in Zeiten dramatischer Veränderung auch von ihrer Fähigkeit und Bereitschaft abhängt, sich auf die Herausforderungen und Fragen dieser Welt einzulassen und einzustellen. Mit anderen Worten: Ihre Akzeptanz hängt von der Bereitschaft und Fähigkeit ab, Neues wahrzunehmen und sich darauf einzulassen.

Norbert Lammert: Glaube braucht Vernunft

Norbert Lammert; Glaube braucht Vernunft: Verantwortung vor Gott und den Menschen, St. Benno Verlag, Gebundene Ausgabe, 80 S., ISBN: 9783746263052