In dem Jahr, in dem Jürgen Habermas geboren wurde, erhielt Thomas Mann den Literaturnobelpreis und in Berlin wurde der erste Tonfilm aufgeführt. Die Weimarer Republik schlitterte in ihre finale Krise, der Schwarze Freitag läutete die Weltwirtschaftskrise ein. Von den Ereignissen des Jahres 1929 hat der heute 95-Jährige nichts mitbekommen, aber von den Folgen. Er war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Seine Familie zählte er später zu den Mitläufern der NS-Diktatur, angepasst an "eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte".
Als Sohn eines Angestellten bei der Industrie- und Handelskammer kam der einflussreichste deutsche Philosoph der Gegenwart am 18. Juni 1929 in Düsseldorf zur Welt. Er war 1944 Fronthelfer, studierte an den Universitäten Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie, stritt für eine lebendige Demokratie und gegen die nachwirkenden Reste der Naziherrschaft. Was das wissenschaftliche Leben des jungen Wissenschaftlers nachhaltig bestimmen sollte, war ein Stipendium, das ihn 1956 nach Frankfurt am Main brachte.
Habermas wurde Assistent bei Theodor W. Adorno am Institut für Sozialforschung, einer Forschungsstätte für die "Kritische Theorie", die den Einfluss des Kapitalismus auf den Einzelnen analysierte. Institutsleiter Max Horkheimer allerdings erschien der junge Habermas politisch unzuverlässig, nicht auf Institutslinie. Habermas musste nach Marburg, später nach Heidelberg zu Hans-Georg Gadamer ausweichen und kehrte erst 1964 nach Frankfurt zurück, "ironischerweise als Nachfolger von Horkheimer als Ordinarius für Philosophie und Soziologie", wie Stefan Müller-Dohm formulierte, Adorno- und Habermas-Biograf.
Was folgte, war ein einzigartiges, ungeheuer produktives Intellektuellenleben mit zahlreichen Preisen und Ehrungen, er wurde in den Orden Pour la mérite aufgenommen, erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Kyoto-Preis. Die Sekundärliteratur zu seinem Werk wird auf etwa 14.000 Arbeiten geschätzt. 1981 erschien Habermas' Hauptwerk, die "Theorie des kommunikativen Handelns", mehr als 1.200 Seiten dick - ein "Monstrum" (Habermas).
Der "bedauernswert seriöse" Mensch meidet Medien
Habermas war nicht nur produktiv, er verstand es auch, seine Begriffe und Stichworte in der Öffentlichkeit zu platzieren: "Strukturwandel der Öffentlichkeit", "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus", "Der philosophische Diskurs der Moderne", "Die neue Unübersichtlichkeit", "Die postnationale Konstellation" bis zu "Auch eine Geschichte der Philosophie" im Jahr 2009.
Als Person blieb er dabei immer beinahe unsichtbar, er hat die Bild- und Tonmedien stets gemieden. Er sei ein "bedauernswert seriöser" Mensch, erklärte Hans Magnus Enzensberger einmal. Und der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch sieht in "seiner unpersönlichen Diktion und seinem paraphrasierenden Schreibstil" den postmodernen "Tod des Autors" verwirklicht. Jürgen Habermas wäre wohl nicht der über alles nachdenkende Theoretiker, hätte er sich nicht auch dazu eine Antwort überlegt: "Der Denker als Lebensform, als Vision, als expressive Selbstdarstellung, das geht nicht mehr."
So gibt es wenig Persönliches über ihn. Er ist seit 1955 mit Ute Habermas verheiratet, hat drei Kinder, Tochter Rebekka starb 2023. Ausgedehnte Auslandsreisen, Lehrtätigkeiten in den USA, der Wechsel von Frankfurt nach Starnberg, wo er bis 1981 als Co-Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt wirkte, danach die Rückkehr nach Frankfurt bis zu seiner Emeritierung 1994 - Anekdoten oder Skandale gab es bei keiner seiner Lebensstationen.
Dagegen reichlich vorhanden sind Bücher, Essays, politische Streitschriften. Er hat seit den späten 1950er Jahren kaum eine intellektuelle Debatte ausgelassen, sich zu (fast) allen Themen zu Wort gemeldet, manche Diskussion wie den Historikerstreit über die Singularität des Holocaust in den 1980er Jahren selber angezettelt. Seine Theorie hat sich über die Universitäten ihren Weg in die Öffentlichkeit gebahnt.
Auf Wahrheit und Konsens gerichtete Kommunikation
Der "herrschaftsfreie Diskurs" und die "ideale Sprechsituation" sind bis heute viel diskutierte Habermas-Stichworte. Das Medium Sprache bekommt bei ihm eine utopische Dimension. Die vernünftige Rede, die auf Wahrheit und Konsens gerichtete Kommunikation, müsse wenigstens "antizipiert" werden, so Habermas, also eine Grunderwartung sein. Dazu gehört auch, dass alle Diskursteilnehmer sich wechselseitig ernst nehmen und sich auf den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" einlassen.
Die Welt allerdings geht in eine andere Richtung. Mit "wachsender Verzweiflung" habe Habermas die "Kriegsstimmung" in der deutschen Öffentlichkeit registriert, erklärte Philipp Felsch, der ihn kürzlich in dessen Starnberger Domizil besuchte, und resümierte: "Es ist bestürzend, Habermas - den letzten Idealisten - so fatalistisch zu erleben."
Info: Philipp Felsch: Der Philosoph. Habermas und wir. Propyläen 2024, 24. Euro. Stefan Müller-Dohm: Jürgen Habermas. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag 2014.
Internet: Jürgen Habermas bei Suhrkamp: https://www.suhrkamp.de/person/juergen-habermas-p-1687