"Die Wirkung der Chancenkarte wird sehr überschaubar sein", sagt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Düsseldorfer "Rheinischen Post". Anders als beim Punktesystem etwa in Kanada, das einen Weg ins dauerhafte Aufenthaltsrecht ebnet, gehe es bei der deutschen Chancenkarte lediglich um die Möglichkeit der Arbeitssuche.
Es gebe also ein relativ kompliziertes Verfahren, um überhaupt die Chance zu bekommen, sich in Deutschland einen Job suchen zu können, kritisiert Brücker.
Viele würden sich ohnehin eine Arbeitsstelle eher per Videokonferenz oder ein Touristenvisum suchen. Erfolgversprechender sei daher die im Gesetz vorgesehene Erfahrungssäule. "Wenn jemand eine abgeschlossene Berufsausbildung und Berufserfahrung im Ausland und ein Jobangebot mit einem Mindesteinkommen in Deutschland hat, kann er hier arbeiten, ohne dass die Gleichwertigkeit der Abschlüsse geprüft wird", erläutert Brücker. Dies sei der effektivere Weg als die Chancenkarte. Als "Haken" bezeichnet der Forscher die aus seiner Sicht hoch angesetzte Einkommensschwelle. Diese werde nur für einen kleinen Teil funktionieren.
Der Migrationsforscher Hans Vorländer von der TU Dresden hält die neue Chancenkarte für ein nützliches Instrument, bemängelt allerdings ein zu kompliziertes Punktesystem. Die Änderungen vereinfachten den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und öffneten ihn für neue Zielgruppen, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Migration und Integration (SVR) der "Rheinischen Post". "Das ist wichtig, denn wir brauchen inzwischen nicht nur Fachkräfte - wir brauchen ganz allgemein Arbeitskräfte." Ausländische Bewerber müssten nun nicht mehr nachweisen, dass ihre im Ausland erworbene Qualifikation gleichwertig zu deutschen Standards sei.
Doch hätte sich der SVR beim Punktesystem der Chancenkarte "mehr Mut zur Vereinfachung" gewünscht. "Das deutsche Migrationsrecht ist mittlerweile so kompliziert, dass nur noch wenige es verstehen." Im Bereich der Anwerbung von Arbeits- und Fachkräften sei dies ein Wettbewerbsnachteil. FDP-Fraktionschef Christian Dürr hingegen sieht die neue Chancenkarte als Erleichterung für die Erwerbsmigration. Durch die klaren Punktekriterien stelle man sicher, dass nur Menschen einwandern könnten, die eine reale Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, sagte Dürr der Zeitung. "In einem nächsten Schritt müssen wir dafür sorgen, dass die langwierigen Visa-Verfahren in den Auslandsvertretungen beschleunigt werden.
Ab dem 1. Juni 2024 gilt die Chancenkarte. Arbeitssuchende aus Nicht-EU-Ländern können mit ihr für ein Jahr zur Jobsuche nach Deutschland kommen. Voraussetzungen sind ein ausländischer Berufs- oder Hochschulabschluss sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch. Je nach Sprachkenntnis, Berufserfahrung oder Alter sammeln Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen. Parallel zur Jobsuche ist Arbeit von bis zu 20 Wochenstunden erlaubt.
Zudem wird das Kontingent der Westbalkanregelung verdoppelt. Bis zu 50.000 Staatsangehörige aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien können Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten, ohne berufliche Qualifikationen nachweisen zu müssen. Laut Bundesinnenministerium reicht ein konkretes Arbeitsangebot oder ein Arbeitsvertrag.