Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem überfüllten Bahnsteig und warten auf einen Zug. Plötzlich nehmen alle Menschen um Sie herum hektisch ihre Taschen und Koffer in die Hände und drängen sich in Richtung Treppe, um den Bahnsteig zu verlassen. Was ist passiert? Sie haben keine Ahnung. Denn Sie sind gehörlos und haben die Durchsage nicht gehört: Der Zug fährt auf einem anderen Gleis ein als geplant.
In Deutschland gibt es rund 80.000 gehörlose Menschen, dazu kommen noch einmal so viele stark schwerhörige. Die Szene am Bahngleis ist nur eine von vielen Situationen, mit denen gehörlose Menschen im Alltag konfrontiert sind. Dass man ihnen ihre Beeinträchtigung nicht ansieht, kommt erschwerend hinzu. "Wir leben in einer lauten Welt", sagt Daniela Milz-Ramming. "Gehörlose Menschen werden oft einfach übersehen." Milz-Ramming ist Gehörlosenpfarrerin in Württemberg und hat viel Kontakt mit gehörlosen Gemeindemitgliedern.
Eva Mündlein ist Theologin und Redakteurin. Sie verantwortet die Zeitschrift "Bibelreport" der Deutschen Bibelgesellschaft. Sie ist überzeugt: Die Bibel in Gebärdensprachen zu übersetzen, ist zwingend notwendig.
Was bedeutet Mission heute? Das ist nicht leicht zu beantworten. Doch mission.de will genau das. Hier kommen Menschen zu Wort, die weltweit in Mission und Ökumene vernetzt und zuhause sind und etwas zu sagen haben. Ein Blog gibt Raum für pointierte Meinungen, aktuelle Themen und Beiträge zu laufenden Diskursen. mission.de ist eine Initiative evangelischer Missionswerke, Verbände und Kirchen unter dem Dach der Evangelischen Mission Weltweit (EMW).
Die Evangelische Mission Weltweit (EMW) ist eine Gemeinschaft von evangelischen Kirchen, Werken und Verbänden in Mission und Ökumene. Missionstheologie, theologische Ausbildung weltweit, Schöpfung und Nachhaltigkeit, Dialog der Religion, interkulturelle und kontextuelle Theologien sowie Frieden und Gerechtigkeit gehören zu den Themen der Dach- und Fachorganisation.
Ihrer Meinung nach könnte man vieles tun, um deren Situation zu verbessern. Zum Beispiel bereits in der Schule auch hörenden Kindern die Möglichkeit bieten, eine Gebärdensprache zu lernen. Denn diese ist für die Kommunikation von gehörlosen Menschen zentral. Milz-Ramming hat als Erwachsene aus eigenem Interesse die deutsche Gebärdensprache gelernt. Bei dieser Art des Redens wird der ganze Körper eingesetzt: Neben den Händen spielen auch der Ausdruck von Gesicht und Augen sowie die Kopf- und Körperhaltung eine Rolle. Dabei gibt es einige Unterschiede zur gesprochenen Sprache, der sogenannten Lautsprache. Während beispielsweise in der Lautsprache alle Wörter der Reihe nach genannt werden müssen, kann die Gebärdensprache ganze Sätze in einer einzigen Bewegung zusammenfassen. "Es ist eine sehr lebendige und bildhafte Sprache", betont Milz-Ramming. "Sehr direkt und ohne Schnörkel."
Vollwertige Sprachen mit großer Vielfalt
Oft wird angenommen, dass eine Gebärdensprache lediglich eine gesprochene Sprache in Zeichen übersetze. Doch das ist falsch. Gebärdensprachen sind eigene und vollwertige Sprachen mit einer eigenen Struktur und Grammatik. Eine Gebärdensprache bietet dieselben Möglichkeiten wie eine gesprochene Sprache. Es gibt nichts, was sich in ihr nicht ausdrücken lässt. Und so wie bei den gesprochenen Sprachen gibt es auch bei Gebärdensprachen eine große Vielfalt: Weltweit werden über 400 verschiedene Gebärdensprachen gesprochen. In Deutschland ist es die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die sich in vielfältige Dialekte aufspaltet.
Auf Außenstehende wirken die ausgeprägte Mimik und Gestik manchmal befremdlich. Doch für gehörlose Menschen sind sie wichtige Mittel, um sich verständlich zu machen. Einige von ihnen haben auch Lautsprache gelernt. Doch das Ablesen von den Lippen ist sehr schwierig und muss jahrelang geübt werden. Selbst diejenigen, die dafür begabt sind, können nicht mehr als 30 Prozent ablesen. "Versuchen Sie mal, die Worte ‚Mutter‘ und ‚Butter‘ von den Lippen abzulesen", sagt Milz-Ramming. "Es ist unmöglich, sie zu unterscheiden."
Deshalb ist für gehörlose Menschen die Kommunikation mit Hörenden meist anstrengend und es kommt oft zu Missverständnissen, weshalb sie gern unter sich bleiben. "Oft erleben sie, dass Hörende in der Kommunikation schnell aufgeben oder sich gar nicht erst bemühen", sagt Milz-Ramming. Augenkontakt, klare Aussprache, kurze Sätze, kein Dialekt, einfache Gesten – wenn man diese einfachen Regeln beachte, dann könne eine Kommunikation funktionieren. "Und wenn es trotzdem nicht klappt: einfach einen Notizzettel zu Hilfe nehmen!", rät die Gehörlosenpfarrerin.
Bibel in eigener Sprache, der Gebärdensprache
Gehörlose Menschen können zwar nicht hören, aber sie sind in der Regel alles andere als stumm. Der Ausdruck "taubstumm" wird von Betroffenen deshalb als diskriminierend empfunden, auch weil er das Bild einer intellektuell eingeschränkten Person vermittelt. "Gehörlose können alles – außer hören", sagt Daniela Milz-Ramming. Sie wünscht sich, dass die Begabungen und Fähigkeiten, aber auch die Bedürfnisse von Gehörlosen in der Gesellschaft mehr wahrgenommen und wertgeschätzt werden.
Dazu gehört auch, gehörlosen Menschen einen Zugang zur Bibel in ihrer eigenen Sprache zu ermöglichen – in der Gebärdensprache, die sie benutzen. Denn die Schriftsprache ist für eine gehörlose Person immer eine Fremdsprache, die sie in der Schule mühsam erlernen muss. Viele lesen deshalb nicht gern. "Gehörlose Menschen denken nicht in Worten", erklärt Milz-Ramming. "Sie denken und träumen in Gebärdensprache." Eine gedruckte Bibel ist für sie deshalb nicht dasselbe wie ein in Gebärdensprache übersetzter Bibeltext. Denn wer von Kind auf eine Gebärdensprache erlernt hat, für den ist sie die Muttersprache, die Sprache des Herzens.
Das Bewusstsein für die Bedürfnisse von gehörlosen oder schwerhörigen Menschen ist in den letzten Jahren bei vielen Bibelgesellschaften weltweit gewachsen. Auch wenn einige der Betroffenen lesen gelernt haben, wünschen sich Menschen mit Hörbeeinträchtigung die Bibel in ihrer Muttersprache, einer Gebärdensprache. Für sie ist diese visuelle Sprache ihre bevorzugte Art und Weise, wie sie mit ihrer Umwelt kommunizieren.
Übersetzung nicht als Buch, sondern als Video
"In den letzten zehn Jahren haben wir noch einmal besser verstanden, dass wir die Bibel für gehörlose Menschen in Gebärdensprache übersetzen müssen", erklärt Mark Penner, der beim Weltverband der Bibelgesellschaften Projekte für Gehörlose betreut. Das Ergebnis einer solchen Übersetzung ist dann nicht wie üblich ein Buch, sondern ein Video. Im Moment sind bei den Bibelgesellschaften 37 solcher Übersetzungsprojekte aktiv, acht in Europa, sieben in Asien, neun in Afrika und 13 in Nord- und Südamerika.
Im vergangenen Jahr wurden in 15 Gebärdensprachen einzelne biblische Bücher übersetzt, die insgesamt 2,5 Millionen Menschen erreichen. Bisher gibt es erst in etwa 60 der 400 weltweit anerkannten Gebärdensprachen Übersetzungen einzelner biblischer Schriften, nur in einer davon, der American Sign Language, eine Übersetzung der ganzen Bibel.
Die meisten Übersetzungsprojekte werden in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen durchgeführt: Hilfswerke, Betroffenen-Gemeinschaften oder Kirchen und ihre Seelsorgenden, die Angebote für Hörbehinderte haben. Die Übersetzungsteams setzen sich in der Regel aus verschiedenen Personen zusammen. Wichtig ist vor allem, dass "Muttersprachler*innen", also gehörlose Menschen an der Übersetzung beteiligt sind. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Bibelvideos später für Menschen mit Hörbeeinträchtigung verständlich sind. Als Übersetzungsbasis gelten die Biblia Hebraica Stuttgartensia für das Alte Testament und die neueste Ausgabe des griechischen Texts für das Neue Testament – wie bei den Übersetzungen in Schriftsprache.
Gehörlose Menschen denken nicht in Worten
Um die Bibel in Gebärdensprache zu übersetzen, müssen einige Hürden überwunden werden. So ist es notwendig, an manchen Stellen neue Gebärden zu entwickeln, zum Beispiel für biblische Schlüsselbegriffe, aber auch für Namen und Orte. Die Übersetzungsteams suchen in der Regel nach einer Gebärde, die den Sinn des zu übersetzenden Begriffs ausdrückt und visualisiert. Gehörlosengemeinschaften sind damit vertraut, dass für Personen und Orte neue Gebärden erfunden werden – es ist Teil ihrer Kultur. Normalerweise bezieht sich eine neue Gebärde auf ein körperliches Merkmal einer Person oder eines Ortes, sie kann aber auch eine bestimmte Haltung oder ein Ereignis aufnehmen. So wird Pilatus beispielsweise durch die Gebärde für "Hände waschen" bezeichnet, Adam ist der "erste Mensch".
Auch bei Redewendungen und szenischen Abfolgen muss gut überlegt werden. Wenn das sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr gehen soll, berät ein Team manchmal stundenlang, mit welchen Gebärden dies verständlich dargestellt werden kann. Oder aber wenn Jesus am See Genezareth predigt – dann muss in der Gebärdensprache darauf geachtet werden, dass Jesus, der auf dem See unterwegs war, erst einmal wieder an Land kommt, bevor er anfängt zu reden. Denn sonst sitzt Jesus für einen gehörlosen Menschen immer noch im Boot. Das liegt daran, dass die Handlung in der Gebärdensprache wie ein Film abläuft. Die Übersetzung der Bibel in Gebärdensprache ist deshalb vor allem eines: ein kreativer Prozess, der viel Zeit und jede Menge guter Ideen benötigt.
Bibeltexte in Deutscher Gebärdensprache
In Deutscher Gebärdensprache (DGS) gibt es eine Reihe an übersetzten Texten, aber keine vollständige Bibel und auch kein Neues Testament. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für evangelische Gehörlosenseelsorge (DAFEG) hat auf ihrer Website alle Bibeltexte zusammengestellt, die auf evangelischer Seite in DGS übersetzt wurden. Nach einem langen Entstehungsprozess hat die DAFEG 2022 auch eine "Kinder-Gebärden-Bibel" veröffentlicht. Sie beinhaltet 22 Geschichten aus dem Neuen Testament. Die biblischen Szenen wurden mit Figuren nachgestellt, ein Erzähler gebärdet dazu, während eine Stimme die Geschichte erzählt. So können hörende und gehörlose Personen die Kinderbibel gemeinsam nutzen.
Die meisten Bibeltexte in DGS sind auf katholischer Seite entstanden. Das Erzbistum München und Freising hat sieben Jahre lang vor allem Texte übersetzen lassen, die in der katholischen Liturgie und bei Kasualien zum Einsatz kommen: Der staatlich geprüfte gehörlose Dolmetscher Kilian Knörzer gebärdete von März 2014 bis März 2021 Sonntag für Sonntag das Evangelium und die 1. Lesung. Dazu gibt es Kommentare in DGS, die den Hintergrund der biblischen Texte erklären. Auf diese Weise sind über 250 Bibelvideos zu den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Paulusbriefen, aber auch zum Alten Testament entstanden. Dennoch sollte dies alles nur ein guter Anfang für eine komplette Bibel etwa in Deutscher Gebärdensprache sein, denn eine gedruckte Bibel ist für gehörlose Menschen nicht ideal. Sie wünschen sich die vollständige Bibel in ihrer Gebärdensprache.
evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.