Im Schatten zwischen dem Nordost- und dem Vierungsturm des Speyerer Kaiserdoms bricht sich ein Sonnenstrahl. Er wirft Linien auf das Mauerwerk, zeichnet helle und dunkle Kontraste. Dann schiebt sich ein Flugzeug in großer Höhe in den senkrechten Blickwinkel. Nur wenige Sekunden dauert der Moment, ein "Kondensstreifen" verweht. "Sehen Sie das?", sagt Horst Hamann und legt den Kopf in den Nacken. "Es geht immer um Licht, die Perspektive, den Standort."
Mit seinen Fotos der New Yorker Wolkenkratzer wurde der in Mannheim geborene Fotograf Hamann in den 1990er Jahren weltberühmt. Das Markenzeichen des 66-Jährigen ist die vertikale, also senkrechte Perspektive. Seit Herbst vergangenen Jahres ist der international tätige Fotograf mit seiner kleinen Leica-Digitalkamera unterwegs, um den Speyerer Dom aus unterschiedlichen Sichtwinkeln aufzunehmen.
"Dom Vertical" heißt das Buchprojekt, für das 70 bis 80 Schwarz-Weiß-Fotos in extremem Hochformat entstehen sollen. Im November soll das Fotobuch erscheinen, Auftraggeber ist die Europäische Stiftung Kaiserdom zu Speyer. Diese will damit die Bekanntheit der fast 1.000 Jahre alten, größten romanischen Kirche der Welt fördern - und auch Geld für die dringend nötige Sanierung der beiden Osttürme sammeln.
"Der Auftrag in völliger kreativer Freiheit ist ein Geschenk", sagt Hamann, der rastlos zwischen London, Paris, New York und der Rhein-Neckar-Region pendelt. Das Unesco-Weltkulturerbe mit seiner in den Himmel strebenden Architektur sei eine besondere fotografische Herausforderung. "Ich liebe dieses Haus", sagt Hamann, der mit seiner Fotokunst dem Dom auch ein persönliches Denkmal setzen will. "Ich will es würdig machen", erklärt der frühere Messdiener. Etliche "Verticals" hat er bereits im Kasten, und fotografiert wird bei jedem Wetter und aus allen möglichen Perspektiven.
Dafür klettert Hamann auch auf die Glockentürme und fotografiert auf dem Fahrrad von der nahen Rheinseite aus das riesige Gotteshaus. Der Baukran vor dem nur wenige Schritte entfernten Historischen Museum der Pfalz kommt ihm als weiteres Bildelement gerade recht: Im Museum sind seine Dom-Fotografien ab Mitte Mai 2025 in einer Ausstellung zu sehen. Danach soll die Fotoschau in andere Domstädte wandern.
Auf Schwarz-Weiß-Fotos wirke nicht nur die Architektur der Metropolen am besten, sagt der weltläufige Fotograf, der ein Vierteljahrhundert in Manhattan lebte. Auch der Speyerer Dom brauche keine Farbe: Nur Kontraste zwischen Schwarz und Weiß ließen das Bauwerk in seiner schlichten Schönheit glänzen. Dass er vor allem vertikal fotografiert, ist für Hamann selbstverständlich. "Der Mensch ist aufrecht", sagt er. Der Blick richte sich immer von unten nach oben.
In seiner Mannheimer "Galerie New York" verwahrt Hamann nach eigenen Worten das größte vertikale Bildarchiv der Welt. Der Speyerer Dom, in dessen Krypta Kaiser, Könige und Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches ruhen, besitze mit seiner mächtigen Architektur auch eine spirituelle Kraft. Jeder Betrachter - ob religiös oder oder nicht - habe seine ganz eigene Sicht auf die Kathedrale.
Schwierig wird ihm die Auswahl der Motive für das Fotobuch fallen. Die Bildfolge muss "einen Rhythmus, einen Spannungsbogen" haben, sagt der Fotograf. Nur eines von 36 Fotos eines "Shootings" sei wirklich gut, laute eine alte Fotografenregel. Und was ist wohl die schönste Perspektive, die "Schokoladenseite" des Speyerer Doms? Horst Hamann lächelt verschmitzt: "Das müssen Sie selbst als Betrachter entscheiden."