In einem Zeitraum von 12 Jahren hat Klaus G. Kohn Menschen - keine Person jünger als 75 Jahre alt, 50 an der Zahl - in ihrer letzten Lebensphase abgebildet. Ob sie ein Ding aus dem Alltag (Schlipse, Kartoffeln etc.) oder etwas Außergewöhnliches (wie eine Panzerfaust oder einen großen Schädel eines Schafes) in den Händen halten - es geht um einen besonderen konzentrierten Rückblick auf ein Leben anhand eines "Dinges", das ihnen im Laufe des Lebens bedeutsam geworden ist.
Schaut man auf die Fotos, stellen sich viele Betrachter natürlich sofort die zentrale Frage: Was hat es mit dem "Ding" und dem jeweiligen "Leben" auf sich, welche besondere Geschichte steht dahinter? Doch Klaus G. Kohn rät Ausstellungsbesuchern zur Muße. Das Überraschende dieses Fotoprojekts ist nämlich die Tatsache, dass man keine Antwort erhält. Das Publikum ist auf die eigene Gedankenwelt und Vorstellungskraft zurückgeworfen. Und das eröffnet ungewöhnliche Erfahrungen und Erkenntnisse.
"Nach dem ersten Foto von meinem Vater mit dem Handtuch habe ich mich entschieden, den Betrachtern der Bilder-Reihe keine Auflösung anzubieten, sondern sie zum Nachdenken, zu eigenen Geschichten und zu Phantasien anzuregen", erläutert der Braunschweiger Fotograf das Konzept seines Projekts. Er macht immer wieder die Erfahrung, dass Betrachter nach dem ersten Frage-Reflex ganz interessante und völlig unerwartete Gespräche und Reflexionen über das eigene Leben erleben.
Kohn hat seinen betagten "Modellen" versprochen, jedes persönliche Geheimnis um "Das Ding" für sich zu behalten. Einzig bei dem Bild von seinem Vater, der 2021 verstarb, macht Kohn eine Ausnahme: "Mein Vater wurde als Jugendlicher zum Ende des Zweiten Weltkrieges zum Reichsarbeitsdienst in einem Dorf bei Hannover eingesetzt. Als der Krieg zu Ende war und mein Vater aber nicht wusste, wer und wo noch jemand aus seiner Familie am Leben war, entschied er sich, in das Dorf zurückzukehren. Alle Utensilien, die er besaß, trug er damals auf seinem Weg bei sich - eingewickelt in einem Handtuch. Als er ankam, hatte er nur noch das Tuch." Der Vater blieb trotz mancher Abwehrreaktionen von Einheimischen gegenüber dem vermeintlichen "Habenichts" und fand später dort sogar seine Ehefrau und gründete eine Familie.
"Das Leben verläuft nicht einfach so zufällig", ist Kohn überzeugt, der evangelisch ist, mit einer Pfarrerstochter verheiratet ist, sich in der Kirche engagierte und schon mehrmals in Kirchen seine Fotokunst präsentiert hat. Für seinen Vater nahm er sich sehr viel Zeit, um dessen Geschichte und "Leben" genau kennenzulernen. Dabei fragte sich der Sohn auch immer, "was hat das mit meinem eigenen Leben zu tun, was hat mich geprägt".
Aus dem ersten Foto entstand drei Jahre später eine Serie mit anderen älteren Herrschaften, für die sich der Fotograf ebenso Zeit nahm: So gab es nicht nur den Fototermin in der kahlen Herbst- oder Winterlandschaft. Kohn führte mit jedem Einzelnen lange, vertrauensvolle Gespräche und erfuhr viel über "Die Dinge und das Leben". Wenn jemand mit einer alten Aktentasche, Kinderschuhen, Feldpost oder Pilzen in der Hand zum Foto bereitstand, dann war Kohn klar, dass all diese "Dinge" exemplarisch für viele Geschichten stehen. "Nicht selten stehen sie für Flucht, Heimatlosigkeit, Not" - Erfahrungen, die viele jener Generation für ihr Leben geprägt haben und die vielleicht auch etwas der nächsten Generation mitgegeben haben.
"Passage" steht für Lebensübergänge und ist ein Porträt als vielschichtiges psychologisches Abbild der deutschen Gesellschaft - individuelle Geschichten, "Zeugnisse von Kraft und Resilienz, oft auch von traumatischen Erfahrungen geprägt", heißt es in Kohns Ausstellungskatalog. "Ich bin dankbar für das Vertrauen und die Offenheit in den Gesprächen, den Mut, in die 'offene Situation' des winterlichen Ackers vor die Kamera zu gehen", betont der Mitsechziger.
"Der Mensch in seiner Einzigartigkeit und Diversität wie auch in seiner Verletzlichkeit und Wandelbarkeit", das sieht in Kohns Fotowerk die Kunsthistorikerin Franziska Schmidt (Kuratorin für die Fotokunst der Moderne und seit 2017 als freie Fotohistorikerin, Autorin und Dozentin tätig). In den Fotografien "verschmelzen Individualität und soziale Kontexte, Leben und Vergänglichkeit, Beständigkeit und Veränderung, inneres Erleben und äußeres Auftreten zu einer bildkünstlerischen Aussage." Betrachter "tauchen tief in die Oberflächen der Bilder ein und erkunden die dahinter liegenden Schichten des Seins, des Wandels und des Vergehens."
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Zu jeder einzelnen Aufnahme der Serie ließen sich unzählige Assoziationen und eigene sowie fremde Erzählungen imaginieren, so Schmidt. Den einzigen konkreten Hinweis auf ein Schicksal liefert das Buch "Das trostlose Leben der Karin P." , das die Protagonistin der Aufnahme, selbst eine freiberufliche Fotografin aus Hannover und einst mehr als zehn Jahre wohnungslos, mit aufs Feld gebrachte. "Die Aufnahmen berühren und sensibilisieren und zeigen auf, wie Lebenswege und Erfahrungen jeden Einzelnen formen (...) Kohns Portraits reflektieren letztendlich die Essenz des Lebens in all seinen Facetten."
Für den Berliner Schriftsteller, Lyriker und Herausgeber Oskar Ansull geht es in Kohns "Passage"-Fotografien um "übriggebliebene und stumme Zeugen unseres Lebens. Wir könnten sie erzählen, solang wir uns noch erinnern, ehe sie mit uns verschwinden und andere nur noch ahnen, was sich da erzählt."
Ansull schreibt in Kohns-Fotoband zu der Ausstellung: "Bürste und Schere, Buch, Geige, Handtuch, Autoschlüssel, Koffer, Foto, Rucksack, Brot, Bilderalbum, Steppdecke, Hühnereier, Hut, Einlegesohlen, Krawatten, Spruchtuch, Orangen, Poncho, Holztierkopf, Pinsel und Farbpalette, Schrott, Körbe mit Schneckenhäusern oder eingerollten Gedichten, Rucksack, Teddybären, Kartoffeln ... Die Dinge hängen an uns und wir an ihnen, das geht bis ins Nicht-loslassen-können. Die Zeit bleibt in ihnen stehen, dehnt sich endlos, spannt sich in die Gegenwart."
Die bejahrten Menschen auf den Bildern hätten "etwas für sich dingfest gemacht, etwas aus ihrem Leben". Ansull vergleicht Kohns Fotoprojekt mit Archäologie, "die den Lebensspuren des Menschen folgt, wenn sie Gräber öffnet und Beigaben aus Jahrtausenden findet, die uns die frühen Geschichten erzählen, etwas aus dem Leben vor Zeiten. Es sind Nachrichten, Botschaften, die uns durch Dinge mitgeteilt werden, die zu uns unterwegs sind und etwas erzählen."
Die neue Ausstellung "Passage: Die Dinge. Das Leben" des Braunschweiger Fotografen Klaus G. Kohn ist bis zum 29. September in der Brüdernkirche in Braunschweig (Schützenstraße 21) zu sehen. Das Begleitprogramm enthält ein Künstlergespräch, das Klaus G. Kohn am 28. August, 18,30 Uhr, im Kreuzgang mit Kerstin Vogt, Direktorin der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem, und Simone Liedtke, Referentin für Kunst und Kultur der hannoverschen Landeskirche, führt. An speziellen Führungen mit dem Künstler können Interessierte am 18. und 25. August sowie am 8., 22. und 29. September jeweils um 15 Uhr teilnehmen.
Die Ausstellung ist geöffnet Montag und Dienstag sowie Donnerstag und Freitag von 11 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag von 14 bis 18 Uhr (Mittwoch Ruhetag). Der Eintritt ist frei.
Klaus G. Kohn (Braunschweig) ist Jahrgang 1957, Freier Fotograf seit 1989
(Reportage, Portrait, Buchillustration, Architektur), Mitglied im Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler, war Vorsitzender des Museums für Photographie, Braunschweig (1999–2007) und wurde 2021 in das Portal Künstlerdatenbank und Nachlassarchiv Niedersachsen aufgenommen. Unter anderem schuf Kohn in der Coronazeit mit Isolation und Sprachlosigkeit die Reihe "Coronastatements": 133 Porträts, jedes mit einer handgeschriebenen persönlichen Botschaft zum Umgang mit der Situation.