Die Atmosphäre wirkt fast gespenstisch. Tief hängt der Nebel über der Brockenkuppe, die Spitze des Sendemastes ist kaum zu sehen. Der schwarze Dampf der Brockenlokomotive mischt sich in die Nebelschwaden, ein tiefes "Tut Tut" hallt über den Berg. Es ist noch kühl, sieben Grad, nur wenige Wanderer sind unterwegs. Im Brockengarten dagegen wird schon fleißig gewerkelt, denn am Montag wurde die diesjährige Saison für Besucherinnen und Besucher eröffnet.
Katja Osterloh leitet seit Juli den subalpinen Garten an der Grenze von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Die 41-Jährige ist Diplom-Ingenieurin für Naturschutz und Landschaftsplanung und für Botanik, Vegetation und Moorökologie im Nationalpark Harz zuständig. "Die klimatischen Bedingungen hier oben entsprechen ungefähr 2.000 Höhenmetern in den Alpen", sagt sie.
Gemeinsam mit ihren Kollegen Holger Bührig und Ingo Matscheroth verteilt Osterloh frische Erde, beschneidet Pflanzen, wässert. Vorsichtig schreitet die Botanikerin über den Granitboden und felsige Steine und nimmt mit gesenktem Kopf und prüfendem Auge die Pflanzen in den Blick: Alpenampfer, Silberwurz, gelber Enzian, Krautweide, Moosbeeren, Fettkraut - und nach Anis duftende Süßdolden.
Übernommen hat Osterloh die Verantwortung für das besondere Pflanzenkleinod von Gunter Karste. Er hatte den im Jahre 1890 vom Direktor des Botanischen Gartens der Georg-August-Universität Göttingen angelegten Garten nach der deutschen Wiedervereinigung neu aufgebaut und mehr als drei Jahrzehnte geleitet.
Das Biotop hat wieder zur alten Form zurückgefunden
"1990 waren von den ursprünglich rund 1.400 Pflanzenarten nur noch etwa 100 übrig", sagt Osterloh. Die Weltkriege und die Zeit, in der der Brocken militärisches Sperrgebiet war und keinerlei gärtnerische Pflege stattfand, hatten ihren Tribut gefordert. Heute hat das Biotop wieder zur alten Form zurückgefunden: rund 1.500 Pflanzen erwarten die Besucher.
Viele von ihnen sind zart, fragil, klein. Sie wachsen niedrig, polsterartig über Steine. Winzige behaarte oder mit einer Wachsschicht versehene Blätter lugen aus den Steinritzen. Fast wirkt es, als duckten sie sich weg.
"Der Eindruck täuscht nicht", sagt Osterloh. Eis, Schnee, Hitze - die klimatischen Bedingungen auf der höchsten Erhebung Norddeutschlands seien herausfordernd, die Pflanzen passten sich dem an. Dreieinhalb Grad betrage die Temperatur im Jahresmittel. Dazu rasiermesserscharfer Wind. "Im November 1984 wurden auf dem Brocken Windgeschwindigkeiten von 260 Kilometer pro Stunde in der Spitze gemessen."
Das Wetter - für Forstwirt Bührig, der seit 1999 im Brockengarten arbeitet, ist es der Hauptgrund, seinen Job zu mögen. "Das Wetter ändert sich schnell, der Regen kommt manchmal waagerecht", sagt er. Gut, dass es die Ranger-Hütte mit ihren grau-verwitterten Holzplanken und Fensterläden gibt. "Da können wir unsere Klamotten trocknen und die Hände wärmen."
Er setzt die Arbeit fort, die andere vor mehr als 130 Jahren ausgeführten
Bührig mag den Gedanken, dass er Arbeiten fortsetzt, die andere schon vor mehr als 130 Jahren ausgeführt haben. Seine wichtigsten Arbeitswerkzeuge seien Messer und Schere, erzählt er. Damit hält er das Pflanzenwachstum in Schach. "Ich sorge für Ordnung", sagt der Forstwirt augenzwinkernd.
Das ist wichtig. Denn nur so können die Besucher die Hochgebirgspflanzen getrennt voneinander wahrnehmen und den Informationen auf den kleinen weißen Schildern zuordnen. Sie geben Auskunft über die Pflanzen: Familie, Gattung, deutscher Name, Verbreitungsgebiet.
Die steinernen Beete sind geografisch angeordnet. Es gibt jeweils ein Beet für Amerika, Asien, den Kaukasus, den Balkan und den Alpenraum - sowie ein Harzbeet. Hier wachsen die Brockenanemone und das subarktische Brockenhabichtskraut - beide sind deutschlandweit nur hier auf der Brockenkuppe zu finden.
Der Brockengarten ist ein Schulungs-, Naturschutz- und Versuchsgarten. Zum Schutz seltener und vom Aussterben bedrohter Pflanzen kooperieren die Botaniker mit den Universitäten in Halle (Saale) und Göttingen. In Halle werden Osterloh zufolge unter anderem die Samen des Brockengartens in Datenbanken archiviert. Etwa die vom Teufelsabbiss, einem bedeutenden Nektar-Lieferanten für Schmetterlinge wie dem rar gewordenen Goldenen Scheckenfalter. "Der legt seine Eier nur in den Teufelsabbiss", erläutert die Botanikerin. "Ohne die Pflanze gäbe es ihn nicht mehr."
Bewahren, beobachten, analysieren, dokumentieren - das gehört zum Beruf von Osterloh und ihren Kollegen. Auch den Klimawandel haben sie mit der benachbarten Wetterstation im Blick. Noch hielten sich die Auswirkungen aber in Grenzen, sagt die gebürtige Dessauerin.
Stärker als klimatische Veränderungen belasteten vor allem die hohen Stickstoff-Einträge aus der Luft die Ökosysteme. Durch Schnee, Nebel und den vielen Regen auf dem Brocken, rund 1.800 Milliliter im Jahr, gelange viel Stickstoff aus Industrie und Landwirtschaft auf den Berg. "Das regnet sich hier alles ab".
Die Gefahr: Stickstoffliebende Arten wie Gräser nehmen zu, heimische Arten wie die Brockenanemone werden verdrängt. Auch deshalb ist für die Biodiversität und den Artenerhalt die hegende, pflegende und mitunter regulierende Arbeit der Brockengärtner von Bedeutung.