Eine Gruppe junger Leute versperrt in der Nacht des 9. November 1988 die Tür zum Rathaus der badischen Kleinstadt Bruchsal mit einem schweren Paket. Daran geheftet sind zwei Briefe an die Verwaltung und die Presse: "Macht das Unrecht wieder gut!", so lautet der Tenor des anonymen Schreibens. In dem Paket befindet sich ein jüdischer Grabstein, der zur Befestigung eines Hohlweges verwendet worden war. Er stammt von einem jüdischen Friedhof in der Nähe, den die Nazis geschändet hatten.
Der Urheber der Grabstein-Aktion outete sich erst jetzt: "Das war ich", verriet der Heidelberger Kirchenhistoriker Johannes Ehmann (66) dem Evangelischen Pressedienst. Der in Bruchsal wohnende evangelische Theologe war damals Studentenpfarrer in Mannheim. Helfer waren einige Studierende: "Wir wollten auf die unsägliche Sache aufmerksam machen", erinnert sich Ehmann.
Die Aktion vor fast 36 Jahren, am Gedenktag der nationalsozialistischen Judenpogrome von 1938, hat Folgen bis heute: Die durch ihr Barockschloss bekannte Stadt Bruchsal beschäftigte sich eingehend mit ihrer Geschichte in der NS-Zeit. Sie beseitigte die in dem Hohlweg als Wasserrinnen verbauten Grabsteine und versetzte den alten jüdischen Friedhof im Obergrombacher Wald auf dem Eichelberg wieder in einen würdigen Zustand. Auf dem Gelände der 1938 niedergebrannten Synagoge plant sie nun eine Gedenk- und Bildungsstätte mit dem Namen "Denkort Fundamente". Nach dem Zweiten Weltkrieg stand dort das Feuerwehrhaus.
Mit seinem verstorbenen Bruder Reinhard, der ebenfalls Pfarrer sowie Landessynodaler für den Kirchenbezirk Bretten-Bruchsal war, hatte Ehmann 1984 als Theologiestudent den Grabstein ausgegraben und aufbewahrt. Erst Jahre später kam ihm die Idee zu der Aktion.
Schweigen über einen "unglaublichen Frevel"
Viele Bruchsalerinnen und Bruchsaler hätten gewusst, dass in der "Obergrombacher Hohle" Grabsteine aus dem fast 400-jährigen jüdischen Verbandsfriedhof verbaut waren - aber sie hätten geschwiegen. Auch in vielen anderen deutschen Städten schändeten die Nazis Grabstätten, um Juden zu demütigen, erzählt der Theologieprofessor. "Das ist ein unglaublicher Frevel." Die Totenruhe ist in der jüdischen Religion unantastbar, Friedhöfe werden für die Ewigkeit angelegt.
Der damalige Bruchsaler Oberbürgermeister Bernd Doll und sein Hauptamtsleiter Otto Ihle (beide CDU) sind bis heute dankbar, dass die Stein-Aktion einiges in ihrer Stadt ins Rollen brachte. "Ich selbst spürte, dass wir zuständig waren und handeln mussten, bevor ein Streit darüber hätte entstehen können", sagt Doll. Die nationale und internationale Presse berichtete über den Fall, ergänzt Ihle: "Der Aufschrei war groß."
Bis heute weiß die Stadt nicht, wer für die Friedhofsschändung und das Verbauen von Grabsteinen in zwei Hohlwegen verantwortlich war. In Absprache mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft (IRG) Baden wurden mehrere hundert Steine wieder auf den Friedhof gebracht, dieser bis 1995 restauriert und mit einem Mahnmal versehen. Rund eine Million D-Mark seien dafür aufgewendet worden.
Der Judenmord der Nazis und die systematische Zerstörung von jüdischer Kultur dürften nicht in Vergessenheit geraten, appelliert die Bruchsaler Oberbürgermeisterin Cornelia Petzold-Schick (Grüne). Der geplante Denkort solle an das jahrhundertelange christlich-jüdische Miteinander erinnern und Raum zur Begegnung schaffen.
"Mit dem jetzigen Zustand des Friedhofs sind wir zufrieden", versichert Rami Suliman, Vorsitzender der IRG Baden aus Karlsruhe. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Kommune beim Umgang mit den Grabsteinfragmenten "hat sicherlich den Weg geebnet für die heutige Kooperation bei der Entwicklung eines Konzepts für die ehemalige Synagoge", sagt er.
Johannes Ehmann muss übrigens keine späte Strafe fürchten. Schließlich habe dieser "den Blick auf die Sache gerichtet", würdigt der frühere Hauptamtsleiter Ihle. "Es war ein erfolgreiches Ergebnis."