Bogis-Bossey ist ein kleiner Ort direkt am Genfer See in der Französischen Schweiz. Hier gibt es nicht einmal eine Bäckerei oder Patisserie. Aber in einem kleinen Schloss in diesem kleinen Ort befindet sich das Ökumenische Institut Bossey. Es gehört zu dem Ökumenischen Rat der Kirchen, der seinen Hauptsitz nicht weit entfernt in Genf hat. Und jedes Jahr wird das Schloss Wohnort und Lehrstätte für circa 35 Studierende. Diese Studierenden beleben in den Herbst- und Wintermonaten das weitläufige Gelände, beten morgens in der urigen Kapelle neben dem Schloss und laufen zwischen Bibliothek, Speisesaal und Unterrichtsräumen hin und her. Sie studieren hier ökumenische Theologie.
Ich war im letzten Semester eine von ihnen. Meine Kommiliton*innen aus circa 25 Ländern und von unterschiedlichsten Konfessionen, 10 Frauen, 25 Männer und ich studierten hier und lebten in dem anliegenden alten Landhaus. Auf unserem Stundenplan standen Geschichte der ökumenischen Bewegung, biblische ökumenische Hermeneutik, ökumenische Theologie und vieles mehr. Und wenn der Unterricht vorbei war, hörten die Ökumene, das Von-einander-Lernen und der interkulturelle Austausch nicht etwa auf. Unser enges Zusammenleben und das straffe Programm machten die Monate in der Schweiz zu 100 Prozent geballter Ökumene.
Die Themen, die wir in den Seminaren behandelten, besprachen wir weiter im Speisesaal und spürten ihre Relevanz in den gemeinsamen Morgengebeten und im täglichen Umgang miteinander. Wir grübelten ganz theoretisch beim Lunch über die Wirksamkeiten der Taufe und über die trennenden Momente im Abendmahl. Manche staunten über die ausführlichen Tischgebete einiger Kommiliton*innen. Ich war gespannt, wenn ich in Gesprächen mitbekam, was die Herausforderungen in den Lebenskontexten meiner Kommiliton*innen waren. Und ich war verdutzt, wenn mir das Wort abgeschnitten wurde, wenn ich als Frau einen theologischen Gedanken entfaltete, und stattdessen meine heutige Kleiderwahl kommentiert wurde.
Intersektionalität im Chaos der Identitäten
So mischte sich alles auf diesem ökumenischen Campus. Wir reflektierten sie, die Ökumene und die Interkulturalität. Und wir lebten sie. Diese beiden Ebenen liefen nicht parallel, sondern durchwebten einander. Da lobt mich am Frühstückstisch mein Kommilitone für mein reges Interesse an theologischen Themen und erst nach dem nächsten Seminar zur Frauenordination verstehe ich, warum ich mich dabei so schlecht gefühlt hatte: Dieser Mann sieht mich gar nicht als Theologin oder potenzielle Kollegin, sondern als interessiertes Mädchen, das über ihre angestammten Aufgaben hinaus, theologisch interessiert ist. Solch ein Lob ist ein tiefer Angriff gegen meine Kompetenz und ich hatte es beim Frühstück nicht bemerkt. Situationen dieser Art waren oft undurchsichtig, zunächst nur schmerzhaft und langfristig werden sie hoffentlich lehrreich.
Sie waren undurchsichtig, denn wir alle bekleideten viele Rollen auf einmal. Jede Person hatte für dieses Semester ein Leben zurückgelassen, in dem sie Positionen und Rollen eingenommen hatte. Viele meiner Kommiliton*innen standen bereits als ordinierte Pfarrperson einer Gemeinde vor. Angekommen in der Schweiz, wurden wir Studierenden losgelöst und doch zutiefst geprägt von unseren zurückgelassenen Hintergründen ganz neu positioniert. Und wir nahmen ganz neue Rollen ein. Identitäten wurden radikal neu definiert und trafen in unterschiedlichster Weise aufeinander. Es ging um Kolonialisierung. Und ich stellte fest: Mir wird eine neue Rolle zugewiesen. "Inse, you are a colonizer." Diese Rolle nahm ich an, hörte zu und durfte lernen. Wir besuchten unsere Wunden, heilten Erinnerungen und teilten Gaben.
Eine Diskriminierung kommt selten allein
Mir wurde bewusst, dass hier in diesem Institut in der Schweiz vieles bekannt und gelegen für mich war. Ich befand mich in einem Nachbarland Deutschlands. Ich fand mich ohne Probleme in die Studienordnung und Organisation des Institutes ein. Ich war wohl vertraut mit den Weisen des wissenschaftlichen Arbeitens, die hier Standard waren. Der Standard am Institut schien mir vor einem westlich europäischen Hintergrund gesetzt. Es gab viel Offenheit und Flexibilität im Studienalltag, aber der Hintergrund war einer, der auch meiner ist. Ich merkte dabei bald, dass in der Auseinandersetzung mit der Kolonialisierung meine anderen Rollen nicht irrelevant werden, oder verschwanden. Ich war als Frau in meinem neuen Umfeld in Bossey auch Opfer von Diskriminierung.
Inse Marie Andrée ist Theologiestudentin in Göttingen. Nachdem sie 2018 ihr Studium an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal begann, studierte sie weiter an den Fakultäten in Kiel, Paris und Göttingen. Zuletzt absolvierte sie einen Studienaufenthalt am Institut des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf. Dabei ist die Gemeinschaft von Taizé ihr spirituell ein Zuhause und regelmäßiges Reiseziel. Neben ihrem Studium und der Verbundenheit nach Taizé ist die Musik, besonders das Singen, eine große Freude für die Studentin.
Was bedeutet Mission heute? Das ist nicht leicht zu beantworten. Doch mission.de will genau das. Hier kommen Menschen zu Wort, die weltweit in Mission und Ökumene vernetzt und zuhause sind und etwas zu sagen haben. Ein Blog gibt Raum für pointierte Meinungen, aktuelle Themen und Beiträge zu laufenden Diskursen. mission.de ist eine Initiative evangelischer Missionswerke, Verbände und Kirchen unter dem Dach der Evangelischen Mission Weltweit (EMW).
Das, was ich hier erlebte – so lernte ich später – ist Intersektionalität. Eine Diskriminierung kommt nicht allein. Viele Rollen, viele zugewiesene Identitäten bedeuten auch viele Momente der Diskriminierung in viele Richtungen. In Bossey spürte ich das. In Bossey litt ich daran. Ich wurde sehr leise in diesen Monaten. Das Chaos der Identitäten und Diskriminierungen macht demütig. Demut ist gut, denn wir sind alle schuldig im Chaos, das immer herrscht und in dem nicht einfach zwischen Täter*innen und Opfern unterschieden werden kann.
Integrität im Dialog finden und behalten
Das Ökumenische Institut in Bossey, diese Einrichtung des Ökumenischen Rates der Kirchen, ist ein einzigartiger und ein wertvoller Ort. Hier wird in einem besonderen Setting studiert. Hier ist Dialog in einzigartiger Weise möglich. Einzigartig an dem Setting ist, dass besonders wenig "set" ist. Es existiert ein Code of Conduct. Grundsätzliche Verhaltensweisen sind "set". Wir gehören alle zu christlichen Denominationen, die an Gott als den Dreieinigen glauben und verkündigen. Das ist auch "set". Dass weibliche Studierende gleichwertig zu ihren männlichen Kollegen sind, ist nicht "set"; Ein "mindset" ist durch einen Code of Conduct nicht "set". Wie kann der Wert des Dialoges dennoch erhalten bleiben, wenn er für Beteiligte bedeutet, als nicht gleichwertig angesehen zu werden? Ist Dialog es wert, dass sich Menschen Herabsetzung aussetzen? Verliere ich als Frau meine Integrität, wenn ich mich Strukturen, wie denen in dem kleinen Schloss in Bossey aussetze? Muss das so sein, oder kann ein Zusammenkommen verschiedener Menschen auch ohne Gewalt passieren?
Diese Fragen sind ein Geschenk, das ich aus dem Institut in Bogis-Bossey in der Französischen Schweiz mitnehme. Und eines kann ich bereits beantworten: Ich verliere meine Integrität nicht, wenn ich mich potenziellen Erniedrigungen im Dialog aussetze. In dieser Sache ist christlicher Glaube eine Quelle großer Resilienz und Toleranz. Toleranz muss nicht dort enden, wo sie meine Identität berührt, sondern macht gerade da meine Identität aus. Und so kann ich weiterhin sagen: Ich will das Andere in meinem Leben, ich will die Anderen und ich muss keine Angst haben, wenn ich in den Dialog trete, denn nichts kann meine Identität verletzen, wenn ich nur weiter Begegnung wage. Und, wenn ich mir der Quelle von Toleranz und der Wurzeln meiner Identität in meinem Glauben bewusst bin, kann ich mich darauf besinnen, den Anderen nicht Gewalt anzutun.