epd: Herr Reimers, in Simbach am Inn wurde im Jahr 2000 ein Pfarrer wegen sexuellen Missbrauchs einer 14-jährigen Schülerin zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Trotzdem durfte er wieder für die Kirche arbeiten und war weiter als Pfarrer tätig - ein Versagen der Kirche als Institution. Was tun Sie, um so etwas künftig zu verhindern?
Stephan Reimers: So wie es damals passiert ist, kann das heute bei uns nach dem nunmehr geltenden Recht nicht mehr passieren: Sobald eine Verurteilung vor einem staatlichen Gericht von mindestens einem Jahr erfolgt, wird jemand aus dem Dienst entlassen und kann nicht mehr eingesetzt werden. Wir orientieren uns dabei an der Verurteilung durch staatliche Gerichte und lassen keine Möglichkeit einer anderen Entscheidung mehr zu.
Seit wann ist dieses Strafmaß von mindestens einem Jahr für eine dauerhafte Suspendierung gültig?
Reimers: Die Bezugnahme auf dieses Strafmaß wurde im Jahr 2005 im damaligen Pfarrergesetz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) ergänzt aufgrund einer Initiative der bayerischen Landeskirche. Es war ein Lernschritt aus Fällen wie diesem in Simbach, dass wir als Kirche nicht ein vom staatlichen Strafrecht freier Raum sind.
epd: In vielen Fällen sexuellen Missbrauchs wurde damals versucht, den öffentlichen Skandal zu vermeiden, das heißt die Kirche versuchte, Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft zu verhindern. Die Kirche deckte damit Täter und hielt Disziplinarmaßnahmen für ausreichend. Wie wird das heute gehandhabt?
Reimers: Versuche, staatliche Verfahren zu verhindern, finden nicht statt. Punkt. Es gibt eine klare Linie im Dienstrecht und in allen Vollzügen der Personalarbeit, alles dafür zu tun, dass diese Fälle der staatlichen Justiz zugeführt werden. Das ist die Linie, die wir heute haben.
Noch 2011 musste die Landeskirche bei einem Fall sexuellen Missbrauchs in Vilshofen Verfahrensfehler einräumen. Das Opfer, eine inzwischen erwachsene junge Frau, musste selbst nachhaken, was aus ihrem Fall geworden sei, den sie der Kirche sieben Jahre vorher angezeigt hatte. Das Ergebnis: Die Straftaten waren verjährt, der Pfarrer blieb im Dienst, weil er nicht zweimal für dieselbe Tat verurteilt werden durfte.
Reimers: Ja, es sind in unserer Kirche in den Verfahren über viele Jahre in der Vergangenheit Fehler gemacht worden. Daraus haben wir gelernt. Gutachter, also Fachleute von außen, sagen uns, dass wir aus diesen Fällen gelernt haben. Wir lassen heute nicht nach, bis wir den Kontakt mit den Betroffenen hergestellt haben, wir stellen ihnen Menschen an die Seite, die den Kontakt mit uns organisieren. Wir versuchen alles, dass die Straftaten angezeigt und Verfahren eingeleitet werden.
Wie wird künftig verhindert, dass Informationen und Aussagen Betroffener auf dem Weg zu kirchlichen Juristen verloren gehen, beispielsweise durch Machtstrukturen, die dies begünstigen?
Reimers: Das ist dadurch gewährleistet, dass die Kommunikation zwischen den Juristen in unserem Haus und den Ansprechpartnern für sexuellen Missbrauch intensiv ist. Dabei muss sichergestellt werden, dass die Informationen weitergeben werden, und zwar nicht über kirchenleitende Personen wie beispielsweise mich, damit nicht der Verdacht entsteht, irgendein leitender Mensch könne die Anschuldigungen aufgrund persönlicher Beziehung zu dem Angeschuldigten verhindern.
Auch die Betroffenen werden darüber aufgeklärt, dass die Staatsanwaltschaft und in der Folge auch wir als Kirche nur die Möglichkeit haben, potenzielle Täter aus dem Dienst zu nehmen und Gefahren für andere abzuwenden, wenn durch Zeugenaussagen die Möglichkeit gegeben wird, die Taten aufzuklären und disziplinarrechtliche Konsequenzen bis zur Entfernung aus dem Dienst zu ziehen. Wenn Betroffene ihren Namen nicht genannt haben wollen, sind wir gefordert, Überzeugungsarbeit zu leisten, dass es den staatlichen Behörden angezeigt wird.
Im Fall Vilshofen ist es viel zu spät zur Staatsanwaltschaft gegangen, der Fall war verjährt.
Reimers: Es handelte sich dabei um ein sogenanntes Spruchverfahren, das versucht, etwas jenseits der üblichen strafrechtlichen Verfahren zu klären. Wir haben gerade aus diesem Fall gelernt und tun es noch immer: Erstens, dieses Spruchverfahren wird nicht mehr angewendet. Zweitens, wir eröffnen jetzt in jedem Fall ein Disziplinarverfahren.
In nicht wenigen Fällen gehen die Täter nach einem kirchlichen Urteil in die Berufung vor dem Disziplinarhof in Hannover. Es ist eine Wartezeit, in der der Verurteilte zwar suspendiert ist, aber seine Bezüge weiter erhält, ohne zu arbeiten. Auch dieser Umstand ist von manchen Betroffenen nur schwer zu ertragen.
Reimers: Beschuldigte eines Vorgangs von sexualisierter Gewalt werden schlichtweg in dieser Zeit nicht eingesetzt. Früher gab es noch die Teilsuspendierung, heute ist es die Vollsuspendierung. Wir haben keine rechtliche Grundlage, jemandem kein Gehalt mehr in dieser Zeit zu zahlen. Aber wir haben alle rechtlichen Grundlagen, jemanden, der beschuldigt ist, für die Zeit der Klärung nicht mehr im Dienst zu haben. Das ist auch ein Learning für uns gewesen.
Das Berufungsverfahren eines Diakons in leitender Position in einem bayerischen Kinderheim, der wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern in den Jahren 1990 bis 1993 verurteilt war, dauerte sieben Jahre, bevor es vor dem Disziplinarhof der EKD zum Abschluss kam.
Reimers: Als Personalverantwortlicher der bayerischen Landeskirche darf ich nicht den Gerichten sagen, wie sie zu arbeiten haben, weil es sonst als Einmischung der Kirchenleitung in die unabhängige Gerichtsbarkeit gilt. Ich darf aber sagen, dass auch ich sehr unzufrieden damit bin, wie lange die Verfahren dauern, und es mit Blick auf die Betroffenen für unerträglich halte.
Ein aktueller Fall aus dem Jahr 2021: Im oberfränkischen Wirbenz erhielt ein Pfarrer wegen sexuellen Missbrauchs einer Frau in einem Beratungsverhältnis einen Strafbefehl von elf Monaten auf Bewährung. Die Landeskirche entließ den Pfarrer aus dem Dienst, der ging in Berufung. Angezeigt wurde nur der Fall dieser einen jungen Frau, obwohl es mutmaßlich mehrere sexuelle Übergriffe auch auf andere Frauen gegeben haben soll. Erhält die Berufungskammer sämtliche Informationen, auch die nicht strafrechtlich relevanten?
Reimers: Wir halten keine Informationen zurück. Das Urteil des Disziplinarverfahrens hatte auch Bestand bei der EKD. Auch der Disziplinarhof der EKD hat beschlossen, dass er nie wieder als Pfarrer arbeiten wird und er dauerhaft keine Bezüge mehr von der ELKB erhält. Ich glaube, das zeigt, dass wir alles getan haben, was wir konnten, um zu einer klaren und schnellen Lösung zu kommen, die im Sinne der Betroffenen ist und auch in unserem Sinne.
Sexueller Missbrauch in der Kirche hinterlässt bei den betroffenen Opfern, der Kirchengemeinde und auch bei den nachfolgenden Pfarrpersonen verbrannte Erde. Welche Nachsorge gibt es?
Reimers: Es ist eine Katastrophe, weil für alle Beteiligten Welten zusammenbrechen, Welten des Vertrauens in die Institution Kirche, aber auch in bestimmte Personen und Menschen. Da bricht richtig viel zusammen. Es braucht eine intensive, manchmal therapeutische, seelsorgerliche und manchmal kirchenleitende Begleitung, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Auch ich gehe in Kirchenvorstände, um sie zu hören und zu erklären, was wir tun. Aber es gibt auch Supervision, Begleitung in der Prävention oder eine intensive Einbindung der Dekane. Es geht um ein Netzwerk von Kommunikation, um ein Netzwerk von Transparenz. So ein Prozess der Aufarbeitung dauert manchmal lange, aber wir müssen die Dinge offen auf den Tisch legen - auch unter der Perspektive der Prävention für die Zukunft.