Der Fürther Dekan Jörg Sichelstiel erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), welches Handeln er auch mit Sicht auf Betroffene für verantwortungsvoll hält.
epd: Herr Sichelstiel, was hat die ForuM-Studie aus Ihrer Sicht gebracht?
Jörg Sichelstiel: Aus meiner Sicht war das Wichtigste an der Studie, dass die Betroffenen beteiligt waren, dass sie gefragt wurden. Ihre Perspektive ist eine fundamental andere als die der Organisation oder der Täter. Ich halte es insgesamt für den Gewinn, dass wir lernen zu fragen: Wie hört eine Betroffene oder ein Betroffener diesen Satz oder ein Bibelwort? Sich diese Perspektive anzueignen, finde ich, ist die Herausforderung.
"Erhellender Blick auf das evangelische Selbstbild"
Erhellend fand ich bei der Präsentation der Studie den Blick auf das evangelische Selbstbild. Es wurde auf die Katholiken, auf gesamtgesellschaftliche Missstände oder auf die Historie verwiesen. Das sind Relativierungen und aus der Betroffenenperspektive sind das alles Schläge ins Gesicht. Es geht um die Menschen und um ihre Schicksale. Das muss man ernst nehmen und da gibt es kein Ausweichen.
Hat Ihnen die Studie neue Impulse zum Umgang mit Betroffenen gebracht?
Sichelstiel: Sehr interessant fand ich die Ergebnisse zur "evangelischen Kultur". Wenn wir Andachten halten oder eine Losung lesen, zum Beispiel die Losung "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandern, sondern das Licht des Lebens haben" - wie hört das ein Betroffener, wenn das von jemandem aus der Täterorganisation gesprochen wird? Das ist ein Schlag ins Gesicht. Da, glaube ich, braucht es wesentlich mehr Sensibilität und Aufmerksamkeit für die Brüche, die Menschen in sich tragen und aufgrund derer sie die Worte anders hören, als wenn jemand diesen Bruch nicht erlebt hat. Ich glaube, das ist eine wesentliche Aufgabe im Hinblick auf theologische Fragen, aber auch im Hinblick auf den Umgang miteinander.
Wie würden Sie nun mit der Erfahrung von heute damit umgehen? Den Bibelspruch zum Beispiel können Sie nicht ändern.
Sichelstiel: Missbrauchserfahrung heißt Finsternis. Als Pfarrer einfach zu behaupten, da ist das Licht der Welt, und sich selbst damit zu identifizieren, geht nicht. Da ist ein Graben dazwischen, den muss man ernst nehmen. Die Menschen erkennen doch selbst, wo Licht ist. Ich kann nicht sagen, da ist Licht, und wehe, du siehst es nicht. Die Haltung muss ein Hören sein und ein Schauen, wo andere Menschen Licht empfinden. Da kann man Angebote machen, aber die Entscheidung liegt bei dem oder der anderen.
Wie sollte man mit einem in der Studie festgestellten Harmoniezwang in der evangelischen Kirche umgehen?
Sichelstiel: Ich finde, zum Evangelisch sein gehört, seiner eigenen Kirche zu misstrauen. Es ist der Ursprung der Reformation, auch den Änderungsbedarf zu sehen. Misstrauen ist der Gegenpunkt zum evangelischen Wohlgefälligkeitsgefühl - etwa gegenüber Macht. Sexualisierte Gewalt ist immer Machtausübung. Durch Macht wird Vertrauen missbraucht und korrumpiert. Das Evangelische hat das Potenzial zur Kritik und zum kritischen Blick. Vielleicht muss man das wieder mehr stärken.
"Das Evangelische hat das Potenzial zur Kritik und zum kritischen Blick."
Als einer der Risikofaktoren wurde eine fehlende Trennung zwischen privat und beruflich bei Pfarrern ausgemacht. Sie sind selbst Dienstvorgesetzter von einigen Pfarrerinnen und Pfarrern. Wo tauchen in der Praxis Konflikte auf?
Sichelstiel: In den beruflich genutzten sozialen Medien gibt es manchmal die Versuchung, Dinge aus dem Privatleben mitzuteilen. Da müsste es eine Grenze geben. Ein weiteres Thema ist ein offenes Pfarrhaus. Die Gemeinde empfindet das oft als ganz toll, im Pfarrhaus ein und aus gehen zu können. Ich bin da sehr zurückhaltend. Ich finde es gut, wenn es ein Büro gibt und eine Privatwohnung und das nicht vermischt ist. Das sind aber Entscheidungen, die jede und jeder für sich selbst trifft, bei denen ich nichts vorschreiben kann. Wenn es um das Bauliche, um Telefonanlagen oder private und berufliche E-Mail-Adressen geht, ist auch schon viel passiert. Da gibt es gute Vorschriften.
Was tut die Kirche in Fürth gegen sexualisierte Gewalt?
Sichelstiel: Wir haben ein Interventionsteam gegründet und wir erstellen ein Präventions-Schutzkonzept. Wir haben vereinbart, dass jede Kirchengemeinde eine Risikopotenzialanalyse betreibt, dass Regeln erstellt werden. Wir haben eine Präventionsbeauftragte und seit drei Jahren eine Ansprechpartnerin aus der Klinikseelsorge. Sie hatte drei Anrufe in den drei Jahren. Ich hatte in meinen 14 Jahren als Dekan in Fürth noch keinen aktuellen Fall. Es muss sich da eine Kultur entwickeln. Und es gibt noch viele Detailfragen, die Aufmerksamkeit brauchen: Wie sind Räume zugänglich, wer kann reinkommen, wer ist wann mit wem in welcher Gruppe?