Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister sagte der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (Montag) , es sei deutlich geworden, dass es Strukturen gebe, die solche Taten begünstigten: "Unter anderem haben wir unterschätzt, welche Auswirkungen die pastorale Macht von Geistlichen hat, die Sonderstellung von Pastorinnen und Pastoren und das Machtgefälle, das sich daraus ergibt."
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) seit 2020 Fälle von sexualisierter Gewalt in den 20 Landeskirchen und der Diakonie untersucht. Sie fanden für den Zeitraum von 1946 bis 2020 mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter. Die sogenannte ForuM-Studie war im Januar in Hannover vorgestellt worden.
Meister sagte, auch die Verquickung von Privatem und Dienstlichem unter anderem in Pfarrhäusern müsse genauer untersucht werden. Anstatt das Leid und das begangene Unrecht der Betroffenen in den Blick zu nehmen, sei teilweise christliche Vergebung von ihnen eingefordert worden: "In einer Weise, die auch theologisch haarsträubend ist." Dies müsse mit den Betroffenen sehr genau analysiert werden. "Und wir müssen Schutz- und Präventionskonzepte vor Ort so gestalten, dass sie Gefahren und das Risiko für sexualisierte Gewalt reduzieren und Handlungssicherheit schaffen."
Verständnis für Kritik der Forschenden
Der Landesbischof räumte Verständnis ein für die Kritik des unabhängigen Forschungsverbundes an den Landeskirchen. Diese hatten eine "schleppende Zuarbeit" beklagt, weil vor allem Disziplinarakten, kaum aber Personalakten eingesehen wurden. "Nach einer ersten Sichtung des Aktenbestandes ist uns in unserer Landeskirche klar geworden, dass es in der Kürze der Zeit mit unserem Personal nicht möglich sein würde, alle Personalakten einzubeziehen", sagte Meister der Zeitung.
Dabei gehe es um Zehntausende von Dokumenten aus mehr als 70 Jahren. Schließlich hätten sich die Landeskirchen und die EKD mit dem Forschungsverbund darauf geeinigt, sich zunächst auf Disziplinarakten und die dazugehörigen Personalakten zu konzentrieren, in denen sich Hinweise auf sexualisierte Gewalt finden. Diese Daten habe die Landeskirche Hannovers fristgerecht geliefert.
Eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden
Ein Teil der Verzögerungen sei darauf zurückzuführen, dass die Fragebögen auf die katholische, nicht aber auf die evangelische Kirche zugeschnitten waren, erläuterte Meister. Dies sei ein Zeichen von Überforderung, aber nicht von mangelndem Aufklärungswillen. Meister betonte: "Wir sind unseren Ansprüchen und vor allem den berechtigen Ansprüchen der Betroffenen nicht gerecht geworden."
Alle Landeskirchen seien klar bereit, die Aktenbestände zu erfassen, die der Forschungsverbund zur Ermittlung von validen Gesamtzahlen angemahnt hatte. "Das genaue Vorgehen wird gegenwärtig auf EKD-Ebene geklärt", sagte der Landesbischof in dem Interview: "Sobald dies geschehen ist, wird auch bei uns das entsprechende Screening der Personalakten erfolgen."
An der interdisziplinären Studie waren Forscher von acht deutschen Universitäten und Instituten beteiligt. Die Landeskirche Hannovers hatte 122 Fälle und Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt ermittelt, darunter 63 Fälle von Pastoren und 59 von weiteren Mitarbeitenden.