Auch "zwischen den Jahren" dauerte der Israel-Gaza-Krieg an. Es sind anscheinend inzwischen über 22.000 Palästinenser:innen umgekommen. Unklar ist, wie viele Hamas-Kämpfer darunter sind. Anscheinend sind 70 Prozent der Opfer Kinder und Frauen. Israel spricht wiederum von etwa 8.000 getöteten Terroristen. Das käme etwa 20–33 Prozent der mutmaßlichen aktiven Hamas-Kämpfer gleich. Gesichert sind aber keine dieser Zahlen.
Gegen Jahresende kündigte das israelische Militär an, die Intensität des Einsatzes im Süden des Gazastreifens zu erhöhen. Angesichts des zunehmenden internationalen Drucks hat das Militär aber auch eingeräumt: Zumindest bei bestimmten Bombardierungen im Süden seien zu viele Zivilisten umgekommen. Zugleich missbraucht die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Doch abgesehen von einem einzelnen Vorfall: Tut Israel insgesamt genug, um Zivilisten zu schützen?
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Tatsächlich lässt sich die israelische Gewalt im Gazastreifen nicht mehr rechtfertigen. Man kann zwar nicht bestreiten, dass die Hamas am 7. Oktober schwerstes Unrecht begangen hat, als Terroristen etwa 750 Zivilisten und 400 israelische Sicherheitskräfte ermordeten, etwa 250 Menschen als Geiseln verschleppten und Frauen systematisch vergewaltigten. Fragt man aber, ob diese Gräuel die israelische Bodenoffensive rechtfertigen, dann kommt es nicht allein auf die auslösende Ursache an. Die Gegenoffensive muss auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen und eine Perspektive des Friedens bieten. Beides ist nicht gewährleistet. Ich bin mir nicht sicher, ob Erkenntnisse von amerikanischen Journalistinnen und Journalisten zur Gewalt des israelischen Militärs in aller Deutlichkeit in Deutschland wahrgenommen werden. Außerdem stellt sich die Frage nach politischen Alternativen. Ferner ist mir nicht ersichtlich, wie Israel seine Kriegsziele erreichen möchte.
Dass die Hamas die palästinensischen Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht, rechtfertigt außerordentliche israelische Gewalt nicht. Zwar waren die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober desaströs, und weiterhin feuert die Hamas Raketen auf Israel ab. Dennoch: Für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israels ist die Offensive, so wie sie jetzt ausgetragen wird, nicht zwingend. Eher schadet sie der Sicherheit Israels. Solange sie in dieser Form andauert, muss die Bundesregierung zumindest die Lieferung von offensivem Militärmaterial an Israel einstellen.
Bereits Ende Oktober setzte Israel mehrere schwere Bomben bei einem Angriff auf ein dichtbesiedeltes Flüchtlingslager im nördlichen Gazastreifen ein, darunter auch zwei 900-kg-Bomben, mit der enormen Sprengkraft von je 430 kg TNT. Ziel waren zwei hochrangige Hamas-Kommandeure, doch es kamen über 125 Zivilisten um (vielleicht gar über 400). Das Missverhältnis ist offenkundig.
Zu dem Vorfall im Norden kommt hinzu, dass Israel die 900-kg-Bomben im Süden sogar routinemäßig einsetzt. Laut der New York Times optierte die israelische Armee dort über 200 Mal für die geballte Zerstörungskraft der XL-Bomben – oft sogar nachdem sie palästinensische Zivilisten in just diejenige Gegend geschickt hatte. Gerade dort seien sie in Sicherheit, hat das Militär Zivilisten geraten.
Um den Einsatz dieser Waffen historisch einzuordnen: Im Kampf gegen den IS in Irak und Syrien wurden die USA dafür kritisiert, dass selbst ihre 225-kg-Bomben zu viele zivile Opfer forderten. Umstritten ist, wie häufig 900-kg-Bomben im Vietnam-Krieg in dicht besiedelten Gebieten eingesetzt wurden. Davon abgesehen muss man bis zum Zweiten Weltkrieg zurückgehen, als zuletzt 900-kg-Bomben in Ballungsräumen systematisch zum Einsatz kamen. Der Historiker Antony Beevor schildert: Teils lautete das Ziel, möglichst viele städtische Quadratkilometer einfach platt zu machen.
Derart massiv hat Israel dieses besonders große Kaliber natürlich nicht eingesetzt. Doch die Israeli Defense Force hat in zwei Monaten Krieg etwa so viele Frauen und Kinder umgebracht wie die westlichen Alliierten in 20 Jahren in Afghanistan. Das liegt auch an den brutalen XL-Bomben, kombiniert mit der Irreführung der Zivilbevölkerung. Hier scheint es sich um systematische Kriegsverbrechen zu handeln.
Verhältnismäßigkeit
Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist ein Grundprinzip des alten israelitischen Rechts, das wir in der Hebräischen Bibel finden. So hat etwa der bekannte Vers "Auge für Auge, Zahn für Zahn" (2. Mose 21,23–25) eine wesentliche Rolle in der langen Geschichte der Rechtsentwicklung gespielt. Ein altes Klischee missversteht den Vers oft im Sinne von Rachsucht. Tatsächlich geht es aber darum, auf eine Gewalttat nicht unkontrolliert mit Vergeltung zu reagieren. Vielmehr muss ein Übeltäter soviel Schadensersatz leisten, wie es dem Verlust entspricht – und nicht mehr. Exzessive Strafen oder Blutrache kommen nicht in Frage.
Das internationale Recht versteht die Verhältnismäßigkeit so, dass man um eines Gewinns an nationaler Sicherheit willen der Zivilbevölkerung keinen überproportional hohen Blutzoll auferlegen darf. Nun können die Schrecken des 7. Oktober ein gewisses Maß an Gewalt rechtfertigen. Wenn das israelische Militär aber routinemäßig Bomben mit exzessiv großer Sprengkraft in städtischen Ballungsräumen einsetzt, verstößt es gegen das alte Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Hebräischen Bibel.
Entmenschlichende Rhetorik
Die Gewalt auch gegen einen Gegner zu zügeln, bedeutet, seine Menschenwürde anzuerkennen. Dagegen hat der israelische Verteidigungsminister zu Kriegsbeginn die Losung ausgegeben: "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere". Joav Gallant beschränkt seine Rhetorik nun nicht auf die Hamas, sondern stimmt das Militär auf genozidiale Gewalt ein: Man werde Gaza "auslöschen".
Kriegsziele
Doch es ist nicht klar, wie Israel seine Kriegsziele erreichen will: die Hamas "vom Angesicht der Erde hinwegzufegen" und die israelischen Geiseln zu befreien. In den zwölf Wochen der Gegenoffensive sind 153 israelische Soldaten umgekommen, doch abseits der Verhandlungslösung mit Gefangenenaustausch ist anscheinend erst eine Geisel lebendig befreit worden. Vor drei Wochen tötete das israelische Militär versehentlich drei israelische Geiseln. Offensichtlich ist es sehr schwer, Hamas-Terroristen klar zu identifizieren, sie gezielt zu töten, und dabei Geiseln nicht mit Terroristen zu verwechseln. Und weshalb sollten sich Terroristen nicht einfach als Zivilisten tarnen?
Alternativlos?
In dieser scheußlichen Situation betonen Israelis immer wieder, der Krieg sei notwendig, weil Israel hier um seine Existenz kämpfe. Die Frage lautet tatsächlich, was zu tun ist, um die Existenz Israels gegen die Hamas zu sichern. Doch dieser Krieg wäre keineswegs die einzig mögliche Antwort gewesen.
Die Gräuel des 7. Oktober wären nicht möglich gewesen ohne schwere Fehler in der israelischen Sicherheitsarchitektur. Wiederholte Warnungen wurden überhört. Die Schuld für das Morden am 7. Oktober liegt weiterhin bei den Terroristen der Hamas. Doch wenn es um die schiere Existenz des Staates geht, kann Israel sich auch mit defensiven Mitteln effektiv sichern. Nicht die defensive Strategie schlechthin ist gescheitert, sondern die Arroganz der Macht, die zu mehrfachem menschlichem Versagen geführt hat.
Eine Bedrohung durch die Hamas bliebe auch bei einer defensiven Strategie bestehen: Sie beträfe das Leben von Individuen, aber nicht die schiere Existenz des Staates. Darauf könnte Israel längerfristig mit einem Maßnahmenpaket reagieren, das auch gezielte Militärschläge umfassen kann – solange sie sorgfältiger vorbereitet sind und mit militärischer Präzision durchgeführt werden.
Die 900-kg-Bomben des jetzigen Krieges sind dagegen unverhältnismäßig. Die Kriegsziele sind schlecht definiert, denn Israel wird einen signifikanten Teil der Hamas-Kämpfer wohl nicht umbringen können. Die Gefahr ist zu groß, dass man in der Hitze des Gefechts sogar israelische Geiseln mit Hamas-Terroristen verwechselt. Und wie soll es dann erst unschuldigen palästinensischen Zivilisten ergehen? Wohlgemerkt, die Gräuel des 7. Oktober sind durch nichts zu rechtfertigen. Doch anstatt die Sicherheitslage zu verbessern, bringt Israel mit teils wahllosem Töten seine Nachbarn gegen sich auf.
Ausblick
Joe Biden hatte Israel gewarnt, das Land solle sich nicht von Wut verzehren lassen und die Fehler wiederholen, die die USA nach dem 11. September begingen. Doch es liegt die Vermutung nahe, dass vor allem zwei Faktoren zu Israels aggressiver Reaktion auf den 7. Oktober führten, anstelle einer besonnenen Reaktion. Für die israelische Zivilgesellschaft bedeutet die Gewalt erstens einen Versuch der Traumabewältigung. Die Versuchung ist groß, den Horror des 7. Oktober mit Bomben zu verarbeiten. Zweitens bietet eine maximale Eskalation Benjamin Netanjahu am ehesten Aussichten, längerfristig seine Macht zu sichern (getreu dem Motto: "never let a good crisis go to waste"). Solange ein extremer Krieg währt, dürfte ein Burgfrieden in Israel halten. Grund genug für Netanjahu, einen extremen Krieg möglichst in die Länge zu ziehen – zum Beispiel, indem er Israel auf ein Kriegsziel einschwört, das sich nicht erreichen lässt. Etwa die Tötung aller Hamas-Terroristen.
Den Versuch, das Trauma mit Gewalt zu überwinden, finde ich menschlich gesprochen nachvollziehbar. Letztlich fragt sich aber, ob das gegenwärtige Zuschlagen weniger eine Verarbeitung des Traumas als vielmehr seine Verdrängung bedeutet. Außerdem sind die politischen Folgen für Israel selbst sehr bedenklich. Der Hamas-Terror war die Hölle, und das hat die Gesellschaft dazu bewogen, dem Militär einen Blanko-Scheck auszustellen. Es besteht die Gefahr, dass der israelischen Zivilgesellschaft die Kontrolle über die Kriegsmaschinerie entgleitet.
Dem stehen wiederum zwei Faktoren der israelischen Zivilgesellschaft entgegen. Der Protest von israelischen Familien für die Geiseln der Hamas könnte das Kriegskabinett zu einer Mäßigung bewegen. Bislang hat sich dieser Effekt allerdings nicht eingestellt. Außerdem könnte das Urteil des Verfassungsgerichts gegen Netanjahus sogenannte Verfassungsreform es ihm erschweren, sich undemokratisch zum Autokraten zu machen. An äußeren Faktoren kommt hinzu, dass die USA kritischer gegenüber der israelischen Kriegsführung werden. In dieser Situation sollte auch die Bundesregierung ihre Unterstützung Israels auf strikt defensive Zwecke beschränken. Bislang stellt Deutschland Israel Kampfdrohnen und Munition für Kriegsschiffe bereit. Doch die Bundesregierung muss kritischer prüfen, ob sie sich damit nicht zur Komplizin bei Kriegsverbrechen macht.