Der Rest einer Streumunition
© Anas Alkharboutli/dpa (M)
Im Norden Syriens soll auch international geächtete Streumuniton eingesetzt worden sein. Die Entfernung der Reste dauert Jahre. Kolumnist Alexander Maßmann setzt sich kritisch mit der Lieferung der Streubomben an die Ukarine auseinander.
Evangelisch kontrovers
Streumunition für die Ukraine?
Sollen wir uns damit anfreunden, dass die USA der Ukraine sogenannte Streumunition liefert, trotz der weitgehenden internationalen Ächtung dieser Waffen? Unser Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann wägt ab.

Letzte Woche hat Joe Biden beschlossen, dass die USA der Ukraine Streumunition liefern werden. Dabei handelt es sich um Bomben, die in der Luft bersten und viele kleinere Bomben freisetzen, die dann auf einer großen Fläche verteilt explodieren. Diese Waffen sind aber international weitgehend geächtet. Ihr Abwurf betrifft eine so große Fläche, dass womöglich auch zivile Anlagen oder Zivilisten getroffen werden. Größer noch ist die Sorge, dass einzelne Bomben nicht explodieren, sondern als Blindgänger Monate oder Jahre unbemerkt bleiben. Wenn dann ein Bauer mit dem Traktor darüberfährt oder Kinder mit dem interessanten Objekt spielen wollen, geht der Sprengsatz hoch und richtet großen Schaden an.

Mit der umstrittenen Unterstützung hofft die USA, der Ukraine durch einen militärischen Engpass zu helfen. Als Übergangslösung liefert man Streumunition, zumindest bis der Westen mit der Produktion regulärer Munition hinterherkommt. Das entspricht dem Wunsch der ukrainischen Führung. Vielleicht könnte die Ukraine so die russischen Verteidigungsstellungen durchbrechen und der stockenden Offensive zu einem Erfolg verhelfen.

Russland setzt solche Streumunition schon länger ein, und die Ukraine verwendet diese Waffen ebenfalls. Die beiden Länder haben sich einem internationalen Abkommen zur Ächtung der Streumunition nicht angeschlossen, ebenso wenig wie die USA. Doch mit 123 Staaten verurteilt die Mehrzahl der Staaten die Herstellung und den Einsatz von Streubomben – einschließlich aller europäischen Länder westlich von Polen. Unter den Ländern, die nicht unterzeichnet haben, sind außerdem auch China, Iran und Nordkorea.

Pro Streumunition

Dass der Westen die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützt, halte ich an sich für geboten. Doch der CDU-Politiker und Außenexperte Ruprecht Polenz hat in den sozialen Medien sogar die Ansicht vertreten: Weil Russland seinen Angriffskrieg mit Streumunition führt, sollte der Westen der Ukraine diese Mittel ebenfalls zur Verfügung stellen. Bundespräsident Steinmeier meinte, zumindest könne Deutschland den USA nicht "in den Arm fallen" – obwohl er selbst das Abkommen zur Ächtung der Streumunition unterzeichnet hat.

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Ist die Lieferung von Streumunition an die Ukraine gerechtfertigt?

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Das US-Verteidigungsministerium gibt an, die Blindgängerquote der amerikanischen Streumunition liege bei 2,4 Prozent. Also würden von 100 der kleineren freigesetzten Bomben zwei bis drei nicht sofort explodieren, sondern erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt Schaden anrichten, wenn der Krieg vielleicht schon vorbei ist. Doch für die von Russland und der Ukraine eingesetzten Bomben kursiert eine wesentlich höhere Fehlerquote von 20–40 Prozent. Das klingt nach einem klaren qualitativen Unterschied. Ist die humanitäre Kritik an der amerikanischen Streumunition also unberechtigt?

Stimmen die Zahlen?

Entgegen ersten Versicherungen dürfte die amerikanische Lieferung auch solche Sprengsätze umfassen, deren Fehlerquote laut Pentagon bei 14 Prozent oder mehr liegt (so die New York Times). Aber es fragt sich ohnehin, wie solche Zahlen zustande kommen. Wenn die Amerikaner etwa den Einsatz ihrer Streumunition im Irak und in Afghanistan untersuchen oder wenn sie eigene Tests in der amerikanischen Wüste durchführen, dürften relativ wenige Blindgänger dabei sein. Anders sieht es aber aus, wenn Streumunition auf feuchten Boden fällt oder auf Sträucher, Büsche und Bäume. Landen die Sprengsätze vergleichsweise weich, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie beim Aufschlag explodieren, und das Risiko steigt, dass sie erst in den kommenden Jahren zur Stolperfalle werden. Im Unterschied zu Afghanistan, dem Irak und den USA dürfte das in der Ukraine verstärkt der Fall sein.

Wie die amerikanischen Zahlen tatsächlich zustande kommen, weiß ich nicht. Ich möchte nicht behaupten, dass die amerikanische Streumunition genauso schädlich sei für Zivilisten wie die russische. Doch bekanntlich gehört die Wahrheit zu den ersten Opfern im Krieg, und ich meine, wir können uns nicht unbesehen auf die Zahlen des amerikanischen Militärs verlassen.

Das internationale Abkommen zur Streumunition

Abgesehen von den USA gibt es keine große westliche Militärmacht und kein westliches Land mit großer Rüstungsindustrie, die Streumunition produziert, vorhält oder einsetzt. Damit kommt den USA eine Schlüsselstellung zu im Kampf um die Ächtung der Streumunition. Da die USA das Sperrabkommen aber ablehnen, untergraben sie das Übereinkunft und geben unfreiwillig Regimen wie Russland und China Rückendeckung, die sich zu den Waffen bekennen.

Bidens Entscheidung ist aber auch deshalb brisant, weil sich die USA zuletzt einseitig einer Sperre der Streumunition angenähert haben. Um diese Waffen in die Ukraine zu liefern, musste Biden ein Gesetz suspendieren, laut dem die ausgeführte Streumunition eine Fehlerquote von 1 Prozent nicht überschreiten darf. Streumunition dieser Art gibt es aber gar nicht! Die USA hatten sich also bereits einseitig dem Sperrabkommen klar angenähert. Das hat Biden nun rückgängig gemacht. Entsprechend atmen Vertreter der konservativen Opposition auf: Sie haben sich schon länger für die Lieferung von Streumunition ausgesprochen – und damit auch gegen den amerikanischen Flirt mit dem Sperrabkommen.

Und die Lage an der ukrainischen Front?

Befürworter der amerikanischen Pläne sagen dagegen: Schauen wir zuerst auf die Ukraine selbst. Können die amerikanischen Bomben der feststeckenden ukrainischen Offensive nicht auf die Sprünge helfen? Das ukrainische Militär versichert zudem, man werde die Munition weder auf russischem Staatsgebiet abwerfen noch in städtischen Regionen. Außerdem werde man dokumentieren, wo sie zum Einsatz kommt, um die Sprengfallen in diesen Gebieten später bevorzugt zu entschärfen. Und schließlich: Wenn die Ukraine die Munition auf ihrem eigenen Staatsgebiet einsetzen möchte, um sich selbst zu verteidigen gegen den ungerechten russischen Angriff – ist das nicht eine innere Angelegenheit und damit moralisch vertretbar?

Das Versprechen der vorrangigen Entschärfung nach Kriegsende ist wenig belastbar. Bereits jetzt sind nur wenige Regionen der Welt stärker mit Sprengfallen übersät als die Ukraine. Außerdem werden die elementare humanitäre Versorgung der Bevölkerung, der Aufbau der Gebäude und der Wirtschaft immense Kraft erfordern. Wie glaubwürdig ist es dann, dass die ukrainische Regierung noch zusätzliche hmanitäre Aktivitäten anbietet?

Dass nur die Ukraine selbst vom ukrainischen Einsatz der Streumunition betroffen sein wird und kein fremder Staat (abgesehen von den russischen Invasoren), ist ebenfalls kein gutes Argument. Im Kern geht es darum: Die Kriegsführung darf der Zivilbevölkerung nicht direkt schaden. So sieht es auch das internationale Recht vor. Mit der Streumunition nimmt man dagegen zivile Schäden in Kauf, preist also eine Grauzone der Kriegsverbrechen bereits mit ein. Ob es sich bei den Zivilisten um russische oder um ukrainische Bürger:innen handelt, ist nicht entscheidend.

Militärisch dürfte die Streumunition der Ukraine höchstens einen kurzfristigen Vorteil verschaffen, laut den Kommentaren verschiedener Zeitungen (New York Times, Süddeutsche Zeitung). Außerdem könnten die Bomben den vorrückenden ukrainischen Truppen schaden. Im Zweiten Golfkrieg z. B. töteten amerikanische Blindgänger durchaus auch amerikanische Soldaten. Doch die Frage nach militärisch mehr oder weniger vorteilhaften Resultaten kann auch nicht das Grundproblem der Gewalt gegen Zivilisten relativieren. Als Russlands Gebrauch der Streumunition bekannt wurde, lautete die amerikanische Reaktion: Das ist ein Kriegsverbrechen – und zwar nicht nur die Tatsache, dass Russland überhaupt Gewalt gegen die Ukraine anwendet, sondern verschärfend auch, dass es sich gerade um Streumunition handelt. Auf eine solche Weise sollte man keine Waffengleichheit zwischen der Ukraine und Russland anstreben.

Fazit

Dass die USA Streumunition an die Ukraine liefern, ist aus ethischer Sicht ein Fehler, weil diese Waffen Zivilisten schaden werden. Die internationale Ächtung der Streumunition erleidet dadurch einen Rückschlag, und damit greift die Ukraine auf Mittel zurück, die auf russischer Seite die Kriegsverbrechen verschärft haben. Hinzu kommt, dass die militärischen Bemühungen der Ukraine, die russische Armee aus dem Land zu vertreiben, durch die Streumunition vermutlich nicht entscheidend vorankommen werden. Besonders bedauerlich am Einsatz der Streumunition ist, dass die Ukraine damit ein gewisses Stück ihrer moralischen Integrität und Überlegenheit aufgibt. Welch Ironie: Der ukrainische Kampf gilt dem Schutz des ukrainischen Volkes gegenüber dem russischen Aggressor, und gerade die ukrainischen Zivilisten werden am ukrainischen Einsatz von Streumunition zu leiden haben.