Pollack sagte: "Aber wenn der Glaube mehr und mehr zurückgeht und auch das soziale Umfeld schrumpft, in dem er gedeihen kann, dann schreitet der Prozess der Entkirchlichung immer weiter voran."
Die Säkularisierung der Gesellschaft sei seit den späten Sechzigerjahren schnell fortgeschritten, sagte Pollack weiter. In der Folge sei es zu einer funktionalen Differenzierung der Lebensbereiche gekommen. "Man lernte: Es gibt Lebensbereiche, in denen es nicht auf Religion ankommt. Man kann zwar persönlich am Glauben festhalten, aber die Gesellschaft kommt auch ohne ihn aus." Die Menschen lernten, dass sie ihr Leben selbst gestalten könnten, dass sie nicht mehr von einem Gott abhängig seien, der das letzte Wort spricht. "Gott und Individuum gerieten in ein Spannungsverhältnis, das war neu."
Es fehle auch der erbarmungsvolle Blick auf das Leben
Dabei sei eine Gesellschaft ohne Kirche ärmer, sagte Pollack. "Es fehlt die katholische Messe mit dem Einzug des Priesters im Ornat, mit Messdienern, Weihrauch und rauschendem Orgelklang. Die schlichte Anmut eines Kirchenraums der Reformierten. Die aufopferungsvolle Strenge der Diakonissen. Das Gebet im stillen Kämmerlein. Und auch der erbarmungsvolle Blick auf unser armseliges Leben. Das und noch viel mehr."
Über die Missbrauchsfälle in den Kirchen müsse geredet werden, forderte Pollack. "Aber Kirche geht in den Missbrauchsfällen nicht auf." In ihr könne man lernen, auf neue Weise, auf eine nicht alltägliche Weise auf das Leben zu schauen. Sie eröffne Horizonte, gebe Trost und Hoffnung, vermittele einen Weg, auch mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen zu lernen. "Die Kirchen tragen einen reichen Schatz an Lebensweisheiten und Lebenserfahrungen in sich. Sie sind mehr als Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt, die ich damit nicht kleinreden will", sagte Pollack, der Professor in einem Exzellenzcluster an der Universität Münster war, der "taz am Wochenende".