Herr Mädel, Sie lesen heute Szenen aus dem Alltag eines politischen Gefangenen wie würden Sie seinen Alltag beschreiben?
Bjarne Mädel: Sehr eintönig, er schreibt, dass man keine Angst haben muss, damit meint er wahrscheinlich, keine Angst vor körperlichen Schmerzen, aber die Eintönigkeit macht einen fertig es passiert einfach gar nichts! Und wenn du
weißt, dass du da für mehrere Jahre eingesperrt bist, ist das, glaube ich, das Erdrückende an der Situation. Dass du weißt, es gibt einfach überhaupt keinen Input außer den Geschichten, die man sich gegenseitig erzählen kann und
den quälenden Gedanken, die man selber im Kopf hat. Der Alltag ist sehr geregelt, eintönig Langeweile pur.
Ist das Ihre erste Auseinandersetzung mit dem Leben im Gefängnis? Und: Macht so eine Auseinandersetzung was mit einem?
Mädel: Ich habe tatsächlich noch keine Texte bearbeitet, weder etwas gelesen noch etwas gespielt, was mit dem Thema Gefängnis zu tun hatte das ist also wirklich neu für mich. Was macht es mit einem? Es ist ein bisschen so wie
schlimme Nachrichten zu schauen und sich zu freuen, dass man selber nicht betroffen ist. Ich glaube, dass man sich das Gefühl des Eingesperrtseins nicht wirklich vorstellen kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Das Schlimme,
wenn man als politischer Gefangener dort eingesperrt ist, man wird ja auch damit schikaniert, dass man nicht weiß, wie lange man einsitzen muss!
"Man wird ja auch damit schikaniert, dass man nicht weiß, wie lange man einsitzen muss"
Es gibt in dem Hörbuch Texte über eine Verhandlung, die den Häftling denken lässt, es gäbe nun vielleicht eine Anhörung oder Auskunft, wann er rauskommt und dann wird das doch wieder alles verschoben, wieder muss er eine Woche länger warten, wieder sind die Richter neu usw. Das ist, glaube ich, das Zermürbende. Und dass man eigentlich das Gefühl hat, man ist nicht schuldig es ist nicht so, als hätte man etwas geklaut hat und käme nun dafür ins Gefängnis. Wenn du so wahllos eingesperrt wirst, ohne Grund, und du weißt, das ist reine Schikane, oder um dich mundtot zu machen, dann kostet das noch viel mehr Kraft, weil du nicht weißt, warum du da bist oder wie du da wieder rauskommst. Und was das mit mir macht? Es lässt mich Dankbarkeit dafür empfinden, dass ich in einem System lebe, in dem ich nicht einfach als Künstler weggesperrt werde, weil ich meine Meinung sagen wollte oder so das macht es mit mir, dass ich sehr, sehr froh bin, nicht betroffen zu sein!
Wonach wählen Sie aus, welche Texte Sie als Hörbuch einlesen und was war bei diesen der ausschlaggebende Punkt?
Mädel: Es klingt immer ein bisschen eitel, wenn man sagt, man geht nach der Qualität der Texte, aber wenn mir etwas sprachlich gefällt, dann bin ich gern dabei. In diesem Fall war es der Kontakt zu speak low und Harald Krewer, der mir das vorgeschlagen hat, und aber auch die Besonderheit, dass es die Texte überhaupt gibt. Dass sie aus dem Gefängnis irgendwie rausgeschmuggelt wurden, das kann ich nicht von den Texten trennen. Literarisch finde ich manche ganz toll, andere vielleicht nicht ganz so stark, aber mir ist immer im Bewusstsein, wie sie entstanden sind: Dass jemand sie geschrieben hat, um mit seiner Situation zurechtzukommen, um am Leben zu bleiben. Literatur als Überlebenshilfe, als Notwendigkeit quasi das spüre ich bei diesen Texten und deshalb gefallen sie mir so gut.
Warum ist es wichtig, dass solche Texte verbreitet werden? Wie ist es für Sie, ihnen eine Stimme zu geben?
Mädel: Das kann ich schwer beantworten, aber das Wichtigste ist, glaube ich, dass sie den Leuten, die irgendwo eingesperrt sitzen, eine Hoffnung oder eine Kraft geben. Dass die eben nicht mundtot gemacht werden können, sondern weiter eine Stimme haben. Wenn ich jetzt in dem Fall meine Stimme geben darf, freut mich das, aber ich weiß ja gar nicht, ob das überhaupt jemand mitkriegt im Gefängnis, dass diese Texte irgendwo veröffentlicht werden Es ist meine
Hoffnung, dass genauso wie die Texte rausgekommen sind, die Information zu den Betroffenen gelangt, dass die Welt sie hört, dass man die Leute nicht vergessen hat.
Ist es einfacher oder fällt es schwerer, solch kurze Texte einzulesen? Entsteht, obwohl es alles für sich stehende Geschichten sind, ein Lesefluss?
Mädel: Es entsteht tatsächlich nicht wirklich ein Lesefluss, aber es entsteht ein Gesamtgefühl über diese Zelle, das Eingesperrtsein, die Trostlosigkeit und die Wände, gegen die man anspricht. Schwierig ist, sich nicht ständig im
Rhythmus zu wiederholen die Texte sind alle ungefähr gleich lang, meistens sehr pointiert oder enden trocken, dass sich das nicht zu sehr wiederholt ist die Herausforderung. Es geht nur über den Gedanken, dass ich klar denke,
was ich da spreche, dass ich die Situation klar vor Augen habe. Einige Texte sind etwas theatraler gedacht, was mir immer Spaß macht, aber auch hier muss ich am Gedanken bleiben: Warum hat er das geschrieben und was meint er damit? Es ist eher schwierig, den Humor zu treffen. Denn darunter liegt: Ich bin hier eingesperrt und verzweifelt, er schafft aber eine Distanz und schreibt diese Texte, um auf seine Situation draufgucken zu können. Das habe ich im Kopf beim Einlesen und manchmal ist es nicht ganz leicht, das richtige Level zu finden, wann etwas lustig gemeint ist, oder wann es eher die Traurigkeit ist, die darunterliegt. Es ist nicht so, dass man in eine große Geschichte reinkommt oder einen großen Bogen hat, sondern es sind immer wieder neue Ansätze und deshalb entsteht nicht wirklich ein Lesefluss.
"Warum hat er das geschrieben und was meint er damit?"
Gibt es Texte, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Mädel: Ich kann keinen einzelnen nennen, aber ich kann sagen, warum mich diese Texte so berühren: Es gibt diese tolle Formel von Charly Chaplin: Komödie ist gleich Tragödie plus Zeit. Wenn was ganz Schlimmes passiert und man einen zeitlichen Abstand dazu hat, macht es die Sache erträglicher. Genauso ist es hier auch: Durch das Mittel des Humors oder der Komik nimmt der Autor einen Abstand zu sich selbst ein und guckt von außen drauf. Das macht für ihn die Situation erträglicher. Er ist nicht nur der Gefangene, sondern immer der, der auf sich selbst schaut, eine Distanz schafft dadurch. Und auch dieser Satz stammt von Chaplin (wie all die guten Sachen): Was in einer Nahaufnahme furchtbar aussieht, kann in der Totalen ein ganz tolles lustiges Bild sein. Ich finde die Texte in ihrer Gesamtheit so berührend, weil ich sehe, wie jemand versucht, mit Humor sein Elend zu ertragen oder erträglich zu machen. Als grundsätzliche Lebenshaltung finde ich das sehr berührend. Und mich berühren die Texte am meisten, die ich am lustigsten finde.
Wie schwer ist es Ihnen gefallen‚ Maxim Znaks glaubhaft rüberzubringen?
Mädel: Ich habe eigentlich das Gefühl, dass er ziemlich klar ist. Er beschreibt schon Momente des Verrücktwerdens in der Draufsicht, ob jemand sich eine Wand anschaut und ein Gemälde sieht oder eine Schneelandschaft, dass man
Wahnvorstellungen bekommt in der Gefangenschaft und Sachen hört und sieht, die es nicht wirklich gibt. Ich finde, er schützt sich selbst ganz gut, weil er so einen klaren Blick auf die Sache hat.
Wie wichtig ist es in Ihren Augen, zu sein? Können Sie die Motivation des Autors nachvollziehen?
Mädel: Das ist eine komplexe Frage, denn ich würde denken, hauptsächlich schreibt er für sich selbst, um eben diese Distanz zu seiner Situation zu bekommen. Es ist aber natürlich eine andere Motivation zu schreiben, wenn du weißt, das soll nachher auch noch jemand lesen, das ist für draußen gedacht. Ich finde es toll, dass er eine literarische Form wählt und nicht einfach nur Tagebuch schreibt. Dass er das in diese Geschichten verpackt, was ihm passiert, weil er an den Leser draußen denkt. Es sind keine emotionalen Tagebucheinträge, sondern es ist eine Kunst entstanden und die macht man ja nie nur für sich, sondern im besten Fall immer für den, der sie draußen liest. Ich glaube schon, dass er im Kopf hatte, das Geschriebene irgendwie nach draußen zu bringen ich weiß gar nicht, wie die Texte überhaupt den Weg nach draußen geschafft haben, aber das ist natürlich eine andere Motivation, wenn man weiß, die Welt soll davon erfahren.
"Es sind keine emotionalen Tagebucheinträge, sondern es ist eine Kunst entstanden und die macht man ja nie nur für sich, sondern im besten Fall immer für den, der sie draußen liest"
Wie können Sie sich am besten in die Perspektive des Protagonisten versetzen? Was hilft Ihnen dabei?
Mädel: Einfach nur immer wieder die Sachen zu denken, die er beschreibt. Es würde nicht helfen, wenn ich mir die ganze Zeit vorstelle, dass ich hier eingesperrt bin in dieser Sprecherkabine, das würde, glaube ich, an den Texten vorbeigehen und sonst würde ich nämlich verrückt werden. Insofern ist es nicht so, dass ich mich wirklich in seine Situation hineinversetzen könnte oder das auch gar nicht erst versuche zu tun. Ich versuche immer, die einzelnen Geschichten ernst zu nehmen und das, was er da beschreibt oder die Situationen, die er kreiert, gut zu fassen, aber ich versuche nicht, mich in seine Lage zu versetzen.
Wie ging es Ihnen, als Sie die Geschichten aus dem Gefängnis gelesen haben? Wie war es, sie laut vorzulesen?
Mädel: Manche Texte haben wir hier erst beim Lautlesen so richtig begriffen. Aber ich bereite das natürlich auch so vor, dass ich sie laut lese. Und trotzdem gab es eine Geschichte, in der wir alle hier beim Aufnehmen erst gemerkt haben, ach so: Er meint einen Spitzel, der mit in der Zelle eingesperrt war. Das habe ich beim Vorbereiten nicht so kapiert. Manchmal überprüft man sich erst selbst noch mal, wenn man Zuhörer hat. Da gab es so ein, zwei Momente beim
Einlesen. Ansonsten ist da eigentlich kein großer Unterschied die haben mich beim ersten Mal Lesen irgendwann gekriegt und das erlebe ich jetzt auch beim Lautvorlesen.
Was ist das Schwierige und was das Schöne daran, nur mit der Stimme zu arbeiten?
Mädel: Manchmal ist es schwer, Zwischentöne zu finden: Wenn man das Gesicht dazu sieht und weiß, man sagt das sehr trocken, aber die Augen lächeln dabei, dann weiß man, das ist als Spaß gemeint. Aber wenn du nur die akustische Ebene hast, kommt vielleicht ein trockener, ernster Satz raus. Ich empfinde es auch deshalb als eine tolle Arbeit, weil ich immer noch dazulerne. Vor der Kamera oder auf der Bühne weiß ich eher über meine Wirkung Bescheid, aber wenn es nur um meine Stimme geht, denke ich immer: Das habe ich doch gerade genau so gesagt! Mir wird dann sowas gesagt wie, "das klang nicht richtig" oder "du hast das nicht richtig gedacht" und ich denke mir: Doch, habe ich! Ich kann es manchmal selbst nicht genau einschätzen, wie die Wirkung meiner Stimme ist, das finde ich wahnsinnig spannend. Wenn man was ironisch meint, zum Beispiel, kann das in der Wirkung gelangweilt klingen. Manchmal habe ich auch das Gefühl, ich übertreibe maßlos, aber dann klingt es doch wie ein normaler Satz. Das Maß zu finden, wenn man nur die Stimme zur Verfügung hat, finde ich immer noch spannend und das ist auch die große Herausforderung.
In Ihrem letzten Hörbuch "Bin nebenan" haben Sie selbst Regie geführt, dieses Mal sind Sie wieder Sprecher wie fühlt sich das an?
Mädel: Bei "Bin nebenan" hatte ich wahnsinnig tolle Sprecherinnen und Sprecher, denen ich gar nicht viel sagen musste. Ich war am verunsichertsten, als ich meinen eigenen Text gelesen habe. Ich sehe immer noch Verbesserungspotenzial bei den Texten, die ich einlese. Ich bin froh, dass ich jetzt wieder jemanden hab, der das für mich übernimmt und wenn der sagt, dass war gut, vertraue ich ihm. Bei mir selber Regie führen finde ich beim Hörspiel unmöglich. Bei den anderen war das total angenehm, weil ich der erste Hörer war. Es war spannend zu sehen, wo ich helfen konnte und wo ich gemerkt habe, dass ein Satz vielleicht nicht richtig gedacht war. Man möchte ja auch nicht verunsichern oder stören. Es war eine spannende Aufgabe, den Kollegen zuzuhören. Bei mir selber bin ich immer verunsichert nicht ganz so schlimm, wie wenn man selber den Anrufbeantworter bespricht und das immer wieder neu, weil man nicht zufrieden ist damit sollte man übrigens machen, wenn man erkältet ist, weil dann die Stimme eine Oktave nach unten sinkt. Ganz so schlimm ist es nicht, meine Stimme kann ich mittlerweile hören, aber ich bin selten zufrieden, wenn ich mich hinterher höre.