Es ist Sonntag, 8 Uhr. Insgesamt sechs schwere Türen schließt Henrike Schmidt mit ihrem langen, übergroßen Sicherheitsschlüssel auf, dann geht es noch eine steile Holztreppe mehrere Etagen hinauf, bis die evangelische Pfarrerin in der Gefängniskapelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Rottenburg am Neckar angekommen ist.
Sie zündet die Altarkerze an, während drei Vollzugsbeamte 14 Männer zum Gottesdienst bringen. Die Inhaftierten nehmen auf zwei Holzbänken Platz, die sich gegenüberstehen. In der Mitte steht ein großer Adventskranz. "Die Adventszeit hat begonnen", erklärt die Gefängnisseelsorgerin, "die Zeit des Wartens auf Weihnachten." Warten sei man auch in der JVA gewohnt. "Das Warten auf den Rechtsanwalt, den Sozialdienst, die Verhandlung, die Entlassung, auf Veränderung, dass alles anders, gut wird." Die Männer hören aufmerksam zu.
Vor wenigen Tagen hat Schmidt den Gottesdienstpreis 2024 der "Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes (Kassel)" entgegengenommen, dessen Jury in diesem Jahr nach Predigten hinter Gittern gesucht hat. Sie wurde ausgezeichnet für eine Predigt zum Vaterunser, mit dem Thema "Vergib uns unsere Schuld". Diese hatte sie im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg gehalten, wo sie elf Jahre tätig gewesen war.
Seit März 2024 ist sie in Rottenburg. "In meinen Predigten möchte ich den Menschen zusprechen, dass sie mehr sind als ihre Schuld, dass sie vor allem Kinder Gottes sind, die gewollt sind - trotz allem, was ist." Diese Hoffnung könne ein "Licht sein, das auch die dunkelsten Zellen erhellen kann."
Ein Mann mit einem weißen, kurz geschnittenen Bart singt das Gospellied "This little light of mine", und spielt dazu Gitarre. Die Gottesdienstbesucher gehen zu einer Ikone und entzünden eine Kerze für ihre Angehörigen, manche bekreuzigen sich. Durch die Fenster strahlt die Sonne und durchflutet den Raum mit der holzvertäfelten Decke mit Licht.
Positive Impulse aus Predigt
"Eine Dreiviertelstunde mal woanders sein, in einem Raum ohne Gitter, das ist sehr wohltuend", sagt ein 55-jähriger Mann mit blonden Haaren, der dieses Jahr sein zwölftes Weihnachten hinter Gittern feiert. Ähnlich geht es einem Familienvater, der jeden Sonntag den Gottesdienst besucht, um "raus aus dem Gefängnistrott" zu kommen, und neue Impulse durch die Predigt zu erhalten. Für ihn ist es das Schlimmste, dass er in der Vorweihnachtszeit seine Frau nicht unterstützen kann. "Die beiden Kinder müssen viele Arbeiten in der Schule schreiben, und ich bin nicht da. Das Leben da draußen geht weiter, und ich kann nicht helfen." An Weihnachten, dem Fest, das im engen Familienkreis gefeiert wird, sei es besonders schwierig für die Familien der Gefangenen, weiß er. "Wenn jemand am Tisch fehlt, und man eben keine heile Familie ist."
An Heiligabend möchten immer besonders viele Häftlinge einen Gottesdienst besuchen. Deshalb wird Schmidt gemeinsam mit ihrer katholischen Kollegin mehrere Gottesdienste anbieten, damit alle, die wollen, einen Platz in der Kapelle finden. Ein 44-jähriger Mann mit einer schwarzen Lesebrille verbringt dieses Jahr sein zehntes Weihnachten in Haft. An Weihnachten habe er immer versucht, den Fernseher oder das Radio möglichst wenig anzumachen. "Dort läuft auf allen Kanälen Weihnachtsprogramm, das ist nicht auf die Situation im Gefängnis abgestimmt", sagt er mit einem Grinsen. "Egal, ob es das erste oder zehnte Weihnachten ist: Man möchte hier nicht sein! Ich weiß, die Familie sitzt nun bei meinem Bruder, und ich bin schuld daran, dass ich nicht mitfeiern kann." Aber man lerne mit der Zeit, mit den Gefühlen umzugehen und sich abzulenken. "Man macht sich sonst kaputt."
Der Adventsgottesdienst geht zu Ende. Voller Hingabe singt der Gitarrenspieler "O happy day", bevor alle wieder in ihre Zelle zurückgebracht werden. Der zweifache Familienvater mit den kurzen Haaren wird am Nachmittag noch ein paar Briefe schreiben, eine Stunde Hofgang haben und morgen dann, wie an jedem Wochentag, in der Wäscherei der JVA arbeiten. Und abwarten. Und darauf hoffen, dass dieses Weihnachten vielleicht sein letztes hinter Gittern sein wird.