© Getty-Images/iStockphoto/BrianAJackson / evangelisch.de (M)
Kolumne: evangelisch kontrovers
Die großen und die kleinen Lügen in der Politik
Friedrich Merz hat mit einer Aussage Schlagzeilen gemacht, die sich grob unsachlich gegen Geflüchtete richtete. Wie ist seine Aussage einzuordnen? Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann argumentiert, dass wir die Funktion von Lügen in der Politik genauer betrachten sollten.

Letzte Woche hat Friedrich Merz mit einer ausländerfeindlichen Aussage Schlagzeilen gemacht. Der Anführer der Opposition hat eine infame Aussage polemisch zugespitzt, die Alice Weidel von der AfD zuvor im Bundestag vorgetragen hatte (23.6.2023). Merz hat allem voran geflohene Menschen verleumdet. Nebenbei fügt er auch dem politischen Tagesgeschäft Schaden zu, auch dem der Union: Soll es in der Migrationspolitik um die Wirklichkeit gehen oder um Erfindungen? Möchte der Oppositionsführer die Sendezeit nicht für praktikable, konstruktive Lösungsvorschläge verwenden? Außerdem legitimiert Merz starke Emotionen. Mit großem Engagement intoniert er: "Die werden doch wahnsinnig, die Leute", wenn sie sehen, wie ihnen die Geflohenen angeblich dieses oder jenes wegnehmen. Emotionen können zu Taten führen: 2022 ist die Anzahl von Anschlägen und Übergriffen verschiedener Art auf Flüchtlingsheime in Deutschland auf 121 geklettert. 

Ich möchte hier zunächst einen Blick auf Merz’ Verleumdungen werfen, bevor ich diskutiere: Hat Merz eigentlich mehr mit Trump gemein, als er meint? Das war nun zu lesen. Der Vergleich mit Trump hilft immerhin zu verstehen, wie so eine unverfrorene, grobe Lüge in der Politik funktioniert. Auch wenn es zum Glück deutliche Unterschiede zwischen Trump und Merz gibt: Es ist keineswegs so, als ob nur die subtile Lüge, die haarscharf an der Wahrheit vorbeigeht, gefährlich ist!

Das Muster Merz

Bei Merz findet man ein etabliertes Muster vor. Trumps Putschversuch Januar 2021 kommentiert Merz – knapp ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau –, indem er den "rechten Terror" in einem Atemzug nannte mit dem "Terror des politischen Islam" und dem "Linksextremismus". In seinen Tweets anlässlich der "Reichsbürger"-Razzien Ende 2022 verurteilt Merz diese Extremisten, behauptet aber, sie seien keine Gefahr für die Demokratie. Dabei waren sie 2020 am Versuch beteiligt, den Deutschen Reichstag zu erstürmen. Deutlich häufiger und schärfer ("Terrorismus") richtet er sich aber gegen die "Klimakleber".

Als Reaktion auf die Silvesternacht polemisiert Merz gegen Menschen mit Migrationshintergrund, ignoriert aber "Sieg Heil"-Rufe in Sachsen. Claudia Pechsteins Rede lobt er als "brillant", die verleumderisch behauptet, Frauen und Ältere hätten beim Busfahren Angst um ihre Sicherheit, aufgrund von nicht-abgeschobenen Asylbewerbern. Bürger:innen mit Migrationshintergrund ("Kreuzberg") spricht er die deutsche Identität ab. 

Weitere Ereignisse zeigen Merz’ Beziehungen zur extremen Rechten. Vor einem Jahr bedient sich Merz einer NPD-Parole, um Rufmord an ukrainischen Flüchtlingen zu begehen. Letzten Juli wirbt er für eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene, entgegen einem Parteitagsbeschluss. Bedenklich war zuvor seine Aussage, die Grünen wollten "möglichst viele Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen". Man kann das durchaus so verstehen, dass er damit in dieselbe Kerbe schlug wie der Pegida-Slogan der "Umvolkung".

Umfrage

Was ist für eine demokratische Gesellschaft gefährlicher: die subtile Lüge, die haarscharf an der Wahrheit vorbeigeht, oder die plumpe, grobe Lüge?

Auswahlmöglichkeiten

Vor ein paar Jahren wurde Merz noch in Schutz genommen, als diskutiert wurde, ob er rechtsradikal sei. Doch inzwischen ist klar: Merz’ Diffamierungen von Migrant:innen haben System. Als Populismus sollte man das nicht verharmlosen. Im Bereich Migration äußert sich Merz gewohnheitsmäßig auf hetzerische Weise und stellt damit implizit die Würde von Menschen mit Migrationshintergrund in Frage. Er schlägt ähnliche Töne wie die AfD an und begegnet andererseits Rechtsextremen nicht mit der gebotenen Strenge. Also ist Merz ein Rechtsradikaler. Ein Rechtsextremist ist er nicht, weil kein Gegner der freiheitlichen Demokratie, kein Antisemit und kein Geschichtsklitterer. Dass er die AfD ablehnt, spricht aber nicht gegen seine Charakterisierung als Rechtsradikaler: Vielmehr hat er im Kampf gegen die AfD unvorteilhafte Züge des Gegners selbst angenommen.

Zwei Reaktionen

Dass es hier um mehr geht als um Merz’ Person, zeigen zwei Reaktionen auf die Verleumdung, die sich beide anhand der Frage eines Spiegel-Reporters zeigen lassen: "Herr Dobrindt, hat Herr Merz einen Punkt?" fragte ein Journalist nach Merz’ Ausfälligkeit. Einerseits dient die Frage dem journalistischen Faktencheck. Andererseits gibt sie einem Verteidiger die Gelegenheit zu sagen, der Provokateur habe bloß ausgesprochen, was sehr viele umtreibt. Anhand dieser beiden Reaktionen lässt sich zeigen, wie schädlich für eine politische Kultur Merz’ Aussagen sind.

Die "schweigende Mehrheit"

Wie Alexander Dobrindt auf die Frage in der Spiegel-Gesprächsrunde reagiert, war vorhersehbar, wie auch bei anderen Verteidigern: Er weist hin auf "das, was die Bevölkerung diskutiert". Jenseits von einzelnen Details spiegele die Aussage einen Konsens einer nebulösen schweigenden Mehrheit. Diese Figur ist im rechten Dunstkreis oft anzutreffen. Eine Mehrheit der Bürger:innen mag die Migrationspolitik kritisch sehen, aber dass sie die falschen, diffamierenden Ansichten vom Weidelmerz hegt, stimmt nicht.

Zugleich gewinnt die Provokation an Suggestivkraft. Die vermeintlich große Zahl der Gleichgesinnten suggeriert Wahrheit und Legitimität. Das hat etwa eine klassische Studie der Sozialpsychologie nachgewiesen: Probanden verleugneten ihre eigene Sinneswahrnehmung, wenn sie dem Urteil der großen Mehrheit widersprach. Der Rechtfertigungsdruck kehrt sich also um: Erklären muss sich nicht mehr der Propagandist, sondern die vereinzelte Abweichlerin. Dagegen hilft etwa entwaffnender Humor: Zum Beispiel ein deutscher Zahnarzt afghanischer Herkunft mit einer deutsch-türkischen Patientin, die in die Kamera lachen und sich Merz mit einer frischen Ansprache entgegenstellen.

Wahrheits-Check

Auf der anderen Seite reagiert die Gesellschaft auch auf extreme Äußerungen, indem sie sie der journalistischen Routine der Faktenprüfung unterwirft, so als wären sie plausibel, wenn auch ungewiss. So teilweise auch mit Merz’ Aussage, die dadurch noch mehr Aufmerksamkeit erhält. Man sollte sie nicht einer abwägenden Betrachtung würdigen, ebenso wie die Überzeugung, die Erde sei flach.

Lügen à la Trump

Wegen seiner Aussage wurde Merz andererseits in die Nähe von Trump gerückt. Als US-Präsident war Trump für ein massives Dauerfeuer mit offensichtlichen Lügen verantwortlich. Oft kam es zu lachhaften Behauptungen. Welche Überlegungen steckten hinter dieser Praxis?

Trumps Lügen dienten zuerst dem Zweck, die kritischen Medien unschädlich zu machen: Gezielt und bewusst wollte er sie in ein dauerndes unproduktives Kreisen um Lügen und baren Unsinn verwickeln. Die Öffentlichkeit stumpft gegenüber den Lügen des Präsidenten und der Dauerkritik der Medien ab, und allmählich läuft die Fähigkeit der Presse ins Leere, den Mächtigen kritisch auf die Finger zu schauen. Trumps Lügen – sein "Bullshit" – zielt auf die Überwältigung der Öffentlichkeit. Bei der AfD dürften wir inzwischen ebenfalls an dem Punkt sein, an dem das journalistische Format des Faktenchecks ein stumpfes Schwert ist, auch wenn er noch so kritisch ausfällt.

Außerdem verschob sich durch die schiere Masse von Trumps Unsinn und Ausfälligkeiten der Rahmen des sozial Akzeptablen. Vor Trump galt vieles als undenkbar, wurde aber durch ihn sagbar oder gar akzeptabel (das Overton-Fenster). Durch die inflationäre Provokation erodiert die Hemmschwelle, und der politische Diskurs nähert sich den Extremen. Auch auf diese Weise gewöhnt man der politischen Öffentlichkeit das kritische Denken ab.

Wird der Tumor streuen?

Merz’ jüngste Ausfälligkeit ist ebenfalls unverfroren, aber mit Trumps Kaliber haben wir es bei Merz insgesamt nicht zu tun. Anders als Trump verfolgt Merz keine Strategie, die sich gegen das politische System richtet. Er erkennt Wahlniederlagen an, leugnet die Klimakrise nicht und verharmlost Putin nicht. Bei Merz ist der Tumor der offenen Lüge auf das Gebiet der Migrationspolitik begrenzt. Die Frage lautet, ob dieser Krebs wächst und sich auch auf andere Politikgebiete ausdehnen wird.

Die plumpe und die subtile Lüge

Vor dem "postfaktischen Zeitalter" haben wir eher nicht die plumpe, offensichtliche Lüge für gefährlich gehalten, sondern die subtile Lüge, die nur knapp an der Wahrheit vorbeigeht, die "den Schein der Wahrheit" hat. Sollten wir uns tatsächlich in einem postfaktischen Zeitalter befinden, dann hat sich die Situation klar verschlimmert. Beides, die subtile Lüge durch Ungenauigkeit oder Auslassung und die himmelschreiende Falschheit sind gefährlich. Doch selbst dann, wenn man Merz nicht die absichtsvolle Zerstörung durch Trumpismus vorwerfen will, sehe ich in der plumpen, offenen Lüge noch zwei weitere Gefahren.

Wirkungen der rechten Propaganda

Obwohl man Merz nicht die Motive Trumps unterstellen kann, können seine Aussagen die Gefahr fremdenfeindlicher Gewalt verstärken und die AfD politisch stärken. Eine aktuelle experimentelle Studie unterstreicht, dass fremdenfeindliche Statements aus bürgerlichen Parteien die Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung stärker befeuern als Aussagen der extremen Rechten.

Ein anderes Problem besteht in der Rolle, die weltanschauliche Faktoren für unser Verständnis der Wirklichkeit spielen. Jede Gesellschaft hat einen Kanon von Geschichten und Überzeugungen, die sich nur teils aus unserer Erfahrung speisen. Teils beeinflussen solche Hintergrundannahmen auch andersherum unsere Wahrnehmung. Sie kann man oft nicht einfach beweisen oder widerlegen. Durch die unverfrorene Lüge ändert sich aber der Pool an verfügbaren Überzeugungen, Trends und Deutungsmustern, mit denen wir die Wirklichkeit wahrnehmen und interpretieren. 

Indem offene Provokationen aus rechten Kreisen das Fenster dessen verschieben, was sagbar und plausibel ist, schätzen wir verschiedene Fragen anders ein, die man so oder so beantworten kann. Das Overton-Fenster beeinflusst nicht nur die Moral und die Flüchtlingspolitik, sondern auch unsere Überzeugungen über verschiedene Sachlagen, von der Frage, wie schädlich Windräder für Vögel sind, bis zur Häufigkeit von Impfschäden. 

Dadurch aber hat auch die unverfrorene Lüge einen Einfluss auf unser Denken, und wir sind nicht einfach vor ihr gefeit, sobald wir ihre grobe Fratze sehen, wie man früher meinte. Oft schmecken auch die unverfrorenen, plumpen Lügen nach Wahrheit! Die deutsche Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass die Union Merz’ Strategie der rechtsradikalen Verleumdung von Geflohenen nicht länger duldet.

Anm. d. Redaktion: Mit diesem Text wird die Kolumne "evangelisch kontrovers" zu einem monatlichen Rhythmus wechseln.