evangelisch.de: Wie wird man Zirkus- und Schaustellerpfarrer, Herr Heinrich?
Torsten Heinrich: Schon immer wollte ich in meinem beruflichen Leben nicht irgendwo festkleben. Ich wollte Neues ausprobieren. In meiner Zeit als Jugendpfarrer in Leipzig bin ich dann das erste Mal mit Schaustellern in Berührung gekommen. Wir hatten dort ein Angebot für die Kinder der Schausteller, und das hat mich vom Fleck weg interessiert. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt wie evangelische Zirkus- und Schaustellerseelsorge. Auf die freiwerdende Stelle des Pfarrers habe ich mich dann beworben und bin glücklicherweise auch genommen worden.
Was fanden Sie spannend an dieser Stelle?
Heinrich: Es ist ein Bereich in unserer Kirche, der sehr vital ist und ich ahnte, dass keine normale Gemeinde auf mich warten wird. Menschen leben auf der Reise, haben eine ganz andere Biografie als wir, die wir eine feste Wohnung haben. Es ist eine ganz eigene Welt. Wie gehört Glauben dazu? Das wollte ich wissen. Schon nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, dass es eine wunderbar lebendige Gemeinde mit einem sehr speziellen Lebensstil ist. Das Besondere an ihr ist, dass jeder wirklich verbunden mit der Kirche ist.
Diese milieuspezifisch geprägte Gemeinde ist unglaublich gut vernetzt. Es gibt ungefähr 5000 Schausteller-Familien in Deutschland, die auf der Reise sind. Ungefähr 20.000 evangelische Menschen sind das. Diese Community funktioniert deshalb, weil sie ein Leben teilen, das sonst keiner in dieser Gesellschaft hat. Das verbindet. Sie sind aufeinander angewiesen, sie helfen sich. Kirche gehört für sie als Selbstverständlichkeit dazu. Und ich bin mit ihnen im Pool.
Warum hat die Kirche bei "Reisenden" ein so hohes Ansehen?
Heinrich: Für Schausteller, Zirkusleute, Komödianten und Puppenspieler ist die Verbindung und die Wertschätzung von Kirche und dem persönlichen Glauben tatsächlich lebendiger und stärker als im Rest der Gesellschaft.
Es ist wie ein Anker in ihrem Leben, das um ein Vielfaches komplizierter ist als das eines Sesshaften. Sie haben kein Haus, in das sie sich zurückziehen können, wenn es donnert - im übertragenden Sinne. Sie sind immer auf der Reise und leben in Großfamilien. Da passiert sehr viel mehr an schönen Momenten: Kinder werden geboren, junge Menschen lassen sich trauen. Wie sie abhängig sind vom Wetter und von den Bedingungen in den Kommunen, dass macht das Leben aber auch anfälliger für Konflikte und Stress. In diesem Leben spielt Gott, der mit ihnen auf der Reise ist und der sie nicht alleine lässt, eine große Rolle.
"Ihr täglich Brot ist ziemlich hart"
Als Reisender sein Geld verdienen zu müssen ist nicht einfach. Es sind kleine, mittelständige bis große Unternehmen, an denen immer eine ganze Existenz hängt. Sowohl bei einem Familienzirkus als bei einem Schaustellerbetrieb, der Erfolg eines jeden Tages ist wichtig für diese Existenzen. Es bedeutet Stress, wenn ich mich immer wieder fragen muss, ob ich von der Kommune die Genehmigung bekomme, dort zu spielen. Es ist ein ständiger Kampf für die Schausteller. Die Einnahmen hängen davon ab, in welcher Großstadt man gastieren darf. Alle wollen ihre Familien ernähren und alle wollen weiter existieren. Das ist ihr täglich Brot und das ist oftmals ziemlich hart.
Wie sieht Ihr beruflicher Alltag aus?
Heinrich: Schöne Frage… Bei der Kirche läuft das noch vollkommen unter dem Radar, was dieser Zweig der evangelischen Arbeit eigentlich für einen Aufwand bedeutet. Es ist an 120 Tage im Jahr ein intensives Reisen, es geht um die Pflege eines jeden Kontakts. Ich komme nicht nur zu solchen Riesen-Ereignissen wie dem Oktoberfest. Das ist nur das Sahnehäubchen obendrauf. Oft reise ich ohne Anlass, nur um die Beziehungen zu pflegen. Wie das in jeder anderen Gemeinde auch der Fall ist. Die Menschen auf der Reise wünschen sich wie jeder von uns, dass jemand ihr Leben kennt und nicht nur einfliegt, wenn eine Taufe ansteht oder jemand beerdigt werden muss. Sie wollen niemanden, der dann - ohne die Familie zu kennen - etwas zum Anlass sagt. Wir wollen einander kennen und das ist wichtig.
Die Wies`n ist das Sahnehäubchen obendrauf
All diese Feste, die einen Umbruch markieren, werden von den großen Zirkus- und Schaustellerfamilien deutlich wahrgenommen und als kirchliche Feste miteinander gefeiert. Gerade war ich in Emden an der Nordsee und habe in einer Großfamilie vier Taufen und fünf Konfirmationen gefeiert. Kirche und Glaube in den Umbruchstellen des Lebens und die Feste, die sich dazu anbieten - das wird in meiner Gemeinde sehr stark gepflegt. Mal sitze ich aber auch eine Stunde mit im Kassenhäuschen und höre zu, was gerade in der Familie läuft. Wer eine Ehekrise hat, wer gestorben ist, wo ein Kind geboren ist. Das mache ich zum Glück nicht alleine, ich habe ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen im Ruhestand, die regional mitarbeiten.
Zirkusleute und Schausteller sind neun Monate, manchmal bis zu elf Monaten im Jahr, voll auf der Reise. Schausteller haben von März bis Ende Oktober Kirmessaison, dann kommt das Umrüsten auf die Weihnachtsmärkte. Im Januar und Februar ist dann ein bisschen Zeit, um alles wieder auf Vordermann zu bringen oder auch mal Urlaub zu machen.
Wieviel Volksfeste gibt es in Deutschland?
Heinrich: Deutschland hat eine unglaublich gute und tief verwurzelte Volksfest-Kultur. Es gibt über 9000 Volksfeste und 3000 Weihnachtsmärkte.
Was macht das Oktoberfest für Sie besonders?
Heinrich: Das Oktoberfest ein sehr gut funktionierendes Großunternehmen auf hohem Level, das hauptsächlich von Schaustellern getragen wird und eine hohe Strahlkraft besitzt. Für mich jedoch ist es ein Volksfest, um dort meine Platzrunde zu machen und meine Leute zu besuchen – ich bin mittendrin im Oktoberfest. Wenn es gut für meine Leute läuft, haben wir nicht viel Zeit zum Reden. Dann machen sie ihr Geschäft und das ist wichtig. Aber wenn es nicht dolle läuft oder gerade regnet, dann ist ein Gespräch gut möglich und viele freuen sich, wenn ich komme.
Welche Begegnung hat Sie in Ihrer Laufbahn als Seelsorger für die Reisenden besonders berührt?
Heinrich: Haben Sie ein bisschen länger Zeit? Da gibt es sehr viele Geschichten. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. Ein Tag ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Ich war für eine Geschäftssegnung eingeladen. Das machen wir, wenn sich jemand etwas anschafft oder etwas übernimmt, mit dem er auf Reise geht. Dann wird der Pfarrer gerufen und die Anschaffung sowie die Familie wird gesegnet. Nach dem ersten Anruf meldete sich ein Zweiter, der auch eine Segnung wollte. Ein paar Tage später meldete sich ein Dritter. Ich hatte alles vorbereitet und fuhr hin. Wir hatten ein Vortragekreuz organisiert und schritten in einer Prozession über den Platz – als evangelische Kirche ganz schön krass – wir haben das zweite Geschäft gesegnet und sind mit dem Kreuz weiter gezogen zum dritten Geschäft. Mittendrin kommt jemand an meine Seite und sagt: "Wir haben uns zwar nicht vorbereitet, aber meine Eltern reisen schon so lange mit dem Geschäft, und das ist noch nie gesegnet worden. Können Sie auch zu uns kommen?" Machen wir, das war das vierte Geschäft. Als wir danach zusammen kamen zum Feiern, setzte sich eine Frau neben mich und sagte: "Ich habe kein Geschäft, aber ich habe einen neuen Wohnwagen, mit dem ich reise. Es wäre mir sehr wichtig, dass Sie den auch segnen." Ich segnete ihren Wohnwagen und hörte mir ihre Geschichte an. Sie sprach von ihren Sorgen und der Gicht in ihren Händen und wie froh sie über diesen Wohnwagen war. Wir haben gemeinsam ein Gebet gesprochen und sie sowie ihren Wohnwagen gesegnet. Das hat mich sehr berührt.
Fühlen Sie Ihre Arbeit von der EKD wertgeschätzt?
Heinrich: Da muss ich ausholen. Momentan wird überall überlegt, wie Kirche funktionieren kann. Hier existiert eine Gemeinde, die milieuspezifisch arbeitet und bundesweit vernetzt ist. Wo ein "post" bei Facebook ungefähr 6000 Leute erreicht, die das weiterreichen. Es ist eine ungemein vitale Gemeinde, die die Kirche in hohem Maße schätzt und fordert.
"Meine Stelle wird nach mir nicht mehr besetzt werden. Das ist eine Katastrophe"
Dem gegenüber steht - Stand heute - ein Prozess in der EKD, der diese Arbeit beenden will. Diese eine Stelle, die es für 20.000 evangelisch Reisenden gibt, soll gestrichen werden. Meine Stelle wird nach mir nicht mehr besetzt werden. Das ist eine Katastrophe. In fünf Jahren ist Schluss. Statt dort Geld hinzugeben, wo Menschen Kirche wollen, hat die Synode beschlossen, die Mittel um 71 Prozent zu kürzen. Wir können es nicht mehr unter dem Deckel halten, was hier von der EKD geplant wird. Das ist einfach nicht okay. Wir tun alles und kämpfen, dass hier noch einmal umgedacht wird.