Davon kann zunächst jedoch keine Rede sein: Die Ukrainerin Marija (Emilia Schüle) kommt auf Vermittlung einer Pflegeagentur nach Deutschland. Fortan wird ihr Dasein rund um die Uhr von den Bedürfnissen eines alten Mannes bestimmt, der anfangs meist teilnahmslos vor sich hin dämmert. Den Großteil ihres Lohns streicht die Agentur ein; mit dem Geld, das übrig bleibt, unterstützt Marija ihre Mutter, die sich um ihren kleinen Sohn kümmert. Altenpflege ist kein Ponyhof, aber die Umstände, auf die die junge Frau trifft, sind eine besondere Herausforderung.
Der verwitwete Curt (Günther Maria Halmer) ist ein Griesgram, dem man nichts recht machen kann. Seine verhärmte Tochter Almut (Anna Stieblich) führt ein straffes Regiment, behandelt den dementen Vater wie ein Kleinkind und hat für Marija, die sich außerdem um den Haushalt kümmern soll, einen minutiösen Dienstplan aufgestellt. Erst mal jedoch macht sie klar, was im Haus alles verboten ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Im wirklichen Leben wäre diese freudlose Geschichte damit zu Ende erzählt, aber Nadine Heinze und Marc Dietschreit, die gemeinsam das Drehbuch geschrieben und Regie geführt haben, bescheren dem Film eine verblüffende Wende: Marija lässt sich von Almuts Antipathie nicht beirren, bringt buchstäblich frischen Wind ins Haus und sorgt mit ihrer Herzlichkeit dafür, dass in Curt eine vergessen geglaubte Lebensfreude erwacht.
Almut ist allerdings alles andere als begeistert. Ihr Vater hält die Pflegerin für seine verstorbene Frau Marianne und offenbart Seiten, die die Tochter gar nicht an ihm kannte. Als sie nach einem Unfall schwerverletzt ins Krankenhaus muss, schlägt die Handlung einen weiteren Haken, denn nun bringen Heinze und Dietschreit eine vierte Figur ins Spiel: Philipp (Fabian Hinrichs). Er ist deutlich jünger als Almut und offenkundig wohlhabend, hat kaum noch Kontakt zu seiner Familie. Für Curt, der die Kinder nach dem frühen Tod der Mutter vernachlässigt und nur für seine Arbeit gelebt hat, empfindet er regelrechten Hass; trotzdem unterstützt er Marija.
Natürlich ahnt sie, dass die Geschenke, mit denen er sie überhäuft, irgendwann ihren Preis kosten werden, aber erst mal genießt sie seine charmante Aufmerksamkeit. Als er sich für ihre Zurückweisung rächt, indem er ihr als zusätzlichen Pflegefall auch noch Almut vor die Nase setzt, nimmt die Geschichte eine weitere Wende: Eine einst mit Curts Frau befreundete Nachbarin weiht sie in ein düsteres Geheimnis ein, das Marija als Wurzel des Unglücks erkennt.
Die besondere Qualität des Films (Erstausstrahlung war 2021) liegt in der Umsetzung. Im Grunde ist "Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen" eine Tragödie, wie schon der Titel andeutet. Er bezieht sich auf eine Bemerkung Curts: Wenn die Tiere vergessen, wo sie ihre Wintervorräte versteckt haben, müssen sie verhungern. Aber weil sich Marija allen Widrigkeiten zum Trotz die Fähigkeit bewahrt hat, die Dinge positiv zu sehen, weist sie ihn darauf hin, dass auf diese Weise immerhin neue Bäume wachsen.
Aus dieser Haltung heraus haben Heinze und Dietschreit ihre zweite Regiearbeit nach "Das fehlende Grau" (2015) umgesetzt. Die Rahmenbedingungen sind alles andere als ersprießlich, aber das Drehbuch gewinnt den Ereignissen immer wieder tragikomische Seiten ab. Eines Morgens findet Marija den scheinbar verschwundenen Curt im Kleiderschrank, er ist dort eingeschlafen, weil er verzweifelt Maria gesucht hat, allerdings nicht seine Pflegerin, sondern die Krippenfigur; als Ersatz nimmt er kurzerhand Marijas Gastgeschenk, eine Matrjoschka.
Der Film endet mit einem ziemlich skurrilen vorgezogenen Weihnachtsabend, an dem Almut und Philipp als stumme Zaungäste teilnehmen. Das Fest ist Marijas Geschenk an die Familie, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrt. Krönender Abschluss ist die wortlose Verständigung zwischen ihr und Curt beim Abschied: eine Szene, die zu Tränen rührt, ohne auch nur ansatzweise kitschig zu sein.
Die Leistung der Mitwirkenden ist ohnehin ausnahmslos famos und preiswürdig. Dennoch ragt die Hauptdarstellerin heraus: Die aus einer deutsch-russischen Familie stammende Emilia Schüle ist für jeden Film ein Geschenk. Aber diese Rolle mit ihren vielen Zwischentönen ist wie geschaffen für die zweisprachig aufgewachsene und trotz ihrer beachtlichen Filmografie immer noch junge Schauspielerin.