Positive Erinnerungen schützen die Seele. Deshalb neigt das menschliche Gehirn dazu, die Vergangenheit schön zu färben. Wenn Opa Hoppenstedt in Loriots legendärem Weihnachts-Sketch behauptet, "Früher war mehr Lametta" (1978), bringt er damit vor allem ein Gefühl zum Ausdruck: Früher war alles besser. Dieses "Früher" bezieht sich zumindest im Westen auf die einstige Bundesrepublik, als die Bahn noch pünktlich war.
Felix Krüger hat sich vor drei Jahren schon einmal mit der Frage beschäftigt, warum sich die Menschen selbst dann nicht von ihren verklärten Erinnerungen an eine "gute alte Zeit" abbringen lassen, wenn sich die vermeintlichen Gewissheiten widerlegen lassen. Unter anderem ging es um deutsche Wertarbeit und angeblich "unkaputtbare" Haushaltsgeräte, aber auch um das Bröckeln traditioneller Institutionen; und um weiße Weihnacht.
In der Neufauflage konfrontiert Krüger erneut diverse Sachverständige mit scheinbar unumstößlichen und in Umfragen ermittelten Behauptungen. Für den Promi-Faktor, ohne den solche Sendungen nicht auskommen wollen, sorgen unter anderem "Prinzen"-Sänger Sebastian Krumbiegel, TV-Moderatorin Christine Westermann und Hans-Joachim Heist, besser bekannt als Gernot Hassknecht, leicht erregbarer Zeitgenosse aus der "heute-show".
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Themen der zweiten Ausgabe entsprechen zwar in der Tat weitverbreiteten Meinungen, aber wirklich relevant ist allein die These, wir lebten heute in einer Zeit der "geistigen Unfreiheit". Anders als früher dürfe man nicht mehr sagen, was man denkt. Dieser Ansicht sind tatsächlich 38 Prozent der Bevölkerung. Leider ist das Umfrageergebnis nicht nach Ost und West aufgeschlüsselt. Es wäre interessant zu erfahren, ob Ostdeutsche, sofern sie der Aussage zustimmen, mit "früher" die DDR meinen. Im Westen herrschten zwar ganz andere Zustände, aber wer seine Jugend in den Siebzigern erlebt hat und damals eine eher linke Gesinnung hatte, erinnert sich vermutlich noch an den Posterspruch "Ein kluges Wort – und schon ist man Kommunist". Das war in jenen Jahren kein Spaß. Ab 1972 konnte der sogenannte Radikalenerlass eine Laufbahn etwa als Lehrer abrupt beenden.
Rund dreißig Jahre zuvor drohte ein ungleich schlimmeres Schicksal: Westermann (74), bis 2016 gemeinsam mit Götz Alsmann Moderatorin der WDR-Talkshow "Zimmer frei", erzählt von ihrem Vater, der für den Ausspruch "Hitler ist ein Schwein" ins Zuchthaus musste. Seine Sekretärin hatte ihn denunziert. Dabei hatte er noch Glück. Andere Regimegegner kamen direkt in ein Konzentrationslager.
Heist berichtet von den Hasskommentaren, die ihn regelmäßig erreichen, wenn er gegen Rechtsextremismus wettert. Übrigens seien diese aus denselben Kreisen, die am lautesten krakeelen, es herrsche keine Meinungsfreiheit in diesem Land. Ein Zeithistoriker bettet sowohl die Thesen wie auch die Antithesen klug in die jeweiligen Zusammenhänge.
Die weiteren Aspekte der Dokumentation, die dank des ausgiebig eingestreuten Materials aus den TV-Archiven sowie vieler zeitgenössischer Hits sehr abwechslungsreich ist, sind Hausbau, Autos und Mode. Dass ein Eigenheim erschwinglich ist, war früher schon genauso falsch wie heute. Die Kosten sind zwar erheblich gestiegen, die Einkommen aber auch.
Was sich dagegen offenbar geändert hat, ist der Umgang mit Geld. Seine Eltern, sagt Heist, hätten einst ein aus heutiger Sicht geradezu lächerlich günstiges Grundstück (50 Pfennig pro Quadratmeter) nicht erworben, weil für den Kauf ein Kredit nötig gewesen wäre. Sie wollten sich nichts "pumpen". Eine Finanzberaterin bestätigt, dass die Leute heute lieber ein zweites oder drittes Mal in Urlaub führen, als sich die Kosten für ein eigenes Haus vom Munde abzusparen.
Dass Autos für die "Ewigkeit" konstruiert waren ("läuft und läuft und läuft"), stimmte nicht mal für den Käfer. Die Älteren erinnern sich. Ab 1971 vergab der ADAC einmal im Jahr die "Silberne Zitrone" für neue Autotypen, die mehr Zeit in der Werkstatt als in der heimischen Garage verbringen mussten, weil sie zu viele Mängel hatten. Davon abgesehen sorgte der Rost unerbittlich dafür, dass die Lebensdauer der Fahrzeuge ohnehin überschaubar war.
Zum Abschluss geht es um die Mode, die angeblich früher schöner war. Tatsächlich läuft die Jugend heute gern in Jogginghose rum, und das keineswegs nur beim Sport. Vor sechzig Jahren haben die Alten über den Minirock geschimpft. Sie hielten das Kleidungsstück für ein Zeichen von Unzucht. Übrigens war man auch früher schon überzeugt, früher sei alles viel besser gewesen. 1975 sang Rudi Carrell: "Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?"