Das Ansinnen ist mindestens mutig. Sich an Alfred Döblins beinahe hundert Jahre alten Milieuroman "Berlin Alexanderplatz" zu wagen, nachdem Rainer Werner Fassbinder dem Fernsehen 1980 mit seiner von der Boulevardpresse inbrünstig bekämpften epochalen TV-Serie eine neue Dimension eröffnet hat: Das grenzt an Vermessenheit. Und doch ist Burhan Qurbani dank einer kühnen Idee ein Werk gelungen, das zwar keine Maßstäbe setzt, aber zu Recht mehrfach ausgezeichnet worden ist.
Der Regisseur und sein Koautor Martin Behnke haben die Geschichte von Franz Biberkopf, der wegen Totschlags an seiner Freundin Ida im Gefängnis war und nach seiner Entlassung daran scheitert, ein besserer Mensch zu werden, in die Gegenwart übertragen. Ein echter Knüller ist jedoch die Transformation der Hauptfigur. Francis stammt aus Westafrika, seine Ida ist im Mittelmeer ertrunken. Er lebt in einem Flüchtlingsheim, arbeitet illegal auf einer Baustelle, verliert den Job jedoch, als sich ein Kollege verletzt und er einen Rettungswagen ruft. Drogenhändler Reinhold (Albrecht Schuch) nutzt die Gelegenheit und lockt Francis auf die dunkle Seite. Der ihm selbst dann noch die Treue hält, als er durch Reinholds Schuld einen halben Arm verliert. Dank seiner Liebe zur Prostituierten Mieze (Jella Haase) scheint sich sein Schicksal zum Guten zu wenden, aber Reinhold vernichtet das Glück.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Fassbinder hat rund 930 Minuten benötigt, um diese Geschichte zu erzählen. Qurbani kommt mit 270 Minuten aus, aber auch das sind einige zu viel. Mit Beginn der dritten Stunde zieht sich die Handlung etwas. Das hat nicht zuletzt mit Jella Haase zu tun, deren Präsenz weder die Intensität des aus Guinea Bissau stammenden Hauptdarstellers Welket Bungué (Francis) noch die irritierende Faszination von Albrecht Schuch hat. Sie führt als Erzählerin durch den mit mystischen Elementen und über weite Strecken untertitelten Film, ist aber keine gute Off-Sprecherin, zumal die dem Roman entliehenen Textpassagen in seltsamem Kontrast zur modernen Umsetzung stehen.
Beim Deutschen Filmpreis 2020 war "Berlin Alexanderplatz" gleich elfmal nominiert, doch die wichtigsten Auszeichnungen gingen allesamt an das Heimkind-Drama "Systemsprenger".
Schuch allerdings wurde hier wie dort geehrt. Allein die Körpersprache, mit der er den unberechenbaren Verbrecher versieht, ist eindrucksvoll. Zu Beginn wirkt er wie eine grinsende Marionette, die nicht mitbekommen hat, dass sie nicht mehr an Fäden hängt. Später, als er seinen Boss Pums (Joachim Król, nicht minder vielschichtig) ermordet und sich selbst zum Kiezkönig krönt, wirkt er wie ein neuer Mensch.
Ähnlich bemerkenswert ist der Wandel, den Francis durchläuft. Er emanzipiert sich von seinem Dasein in der Sklaverei und wird zum Kronprinz. Mit großer Geste übernimmt er Reinholds Rolle bei der Anwerbung neuer Dealer im Flüchtlingsheim. Seine Rede gipfelt in der triumphierenden Behauptung "Ich bin Deutschland". Natürlich ist er nach wie vor ein Knecht des Kapitalismus’; doch diesmal merkt er nicht mal mehr, dass er unterdrückt wird.
Burbani ist als Sohn afghanischer Flüchtlinge 1980 im rheinischen Erkelenz nahe Mönchengladbach zur Welt gekommen. Seine eigenwillige, aber vollkommen plausible Umwidmung des Döblin-Stoffs trägt im weitesten Sinn biografische Züge, selbst wenn Francis eine typische kriminelle Karriere einschlägt. Im Grunde erzählt der Regisseur, der nach seinem Debüt ("Shahada", 2010) vor allem mit seinem unbequemen Zweitwerk "Wir sind jung. Wir sind stark" (2014) über die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen (1992) auf sich aufmerksam gemacht hat, eine Passionsgeschichte von Schuld, Sühne und Erlösung.
Bei seiner Flucht muss sich Francis entscheiden, ob er gemeinsam mit der sich an ihn klammernden Ida untergehen oder ob er überleben will. Als er "an den Strand eines neuen Lebens gespült" wird, wie Mieze aus dem Off erzählt, schwört er, ein neuer Mensch zu werden. Anstand gibt es jedoch nicht umsonst. "Einer muss die Zeche zahlen", wie Pums ihm klar macht. Dem mephistophelischen Charme Reinholds ist er ohnehin nicht gewachsen. Auch das hat Pums kommen sehen: "Es ist nicht leicht, sich dem Teufel zu entziehen, wenn man ihn einmal zu sich eingeladen hat."
Beim Deutschen Filmpreis sind neben Schuch auch Yoshi Heimrath (Kamera), Dascha Dauenhauer (Musik) sowie Silke Buhr (Szenebild) ausgezeichnet worden. Gerade die Bildgestaltung ist in der Tat sehr bemerkenswert, zumal der Film an entscheidenden Stellen immer wieder die Signalfarbe der Leuchtraketen aus dem Mittelmeer-Prolog aufgreift. Sie haben den Himmel in ein berückend schönes Scharlachrot getaucht. Diese Farbe trägt auch die Hure Babylon, die "Mutter aller Gräuel", in der von Mieze zitierten Offenbarung des Johannes; Anleihen bei der Serie "Babylon Berlin" (ARD/Sky) sind nicht zu übersehen.