"Es waren, glaube ich, zwei Einheiten à 90 Minuten, also ein Vormittag. Es gab eine Vorstellung des Kirchen-Gesetzestextes, der Verhaltenskodex wurde vorgestellt und das wurde in Kleingruppen diskutiert", erinnert sich Florian Lengle an den Beginn seines Predigerseminars vor mehr als zwei Jahren.
Heute ist er Pfarrer im Entsendungsdienst in Oranienburg. Begonnen hatte seine zweite Ausbildungsphase nach dem Theologiestudium mit dem religionspädagogischen Vikariat, also dem sechsmonatigem Schulvikariat. Der Verhaltenskodex seiner Kirche, das ist ein Din-A-4-Blatt mit 8 Symbol-Bildern. Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spielpuppen, die zueinander in Beziehung beziehungsweise auf Abstand stehen. Daneben kurze Erläuterungstexte.
"Zum Beispiel: Kinder und Jugendliche und Erwachsene schützen. Ich will die mir anvertrauten Menschen vor Schaden, Missbrauch und Gewalt schützen. Dass man die Rolle in der Verantwortungsposition nicht ausnutzt", liest der junge Pfarrer vom Zettel, den er stets in seinem Dienstzimmer hat.
Eine Grundsensibilisierung in 2 Mal 90 Minuten zu Beginn des Vikariats. Nach 13 Jahren Missbrauchsskandal klingt das wenig. Doch das sei nur der Anfang, sagt Silke Hansen, Studienleiterin Prävention sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg Schlesische Oberlausitz (EKBO). So macht sie im Predigerseminar eine Übung zur Sensibilisierung.
Diskussion über Nähe und Distanz
"Da stellt man sich zu zweit gegenüber. Man geht aufeinander zu und soll Stopp sagen. Das probieren die erst schweigend aus. So dass ich auch mal jemanden bitte, plaudernd auf jemanden zuzugehen. Und da kommt es schon vor, dass man da mal nicht Stopp sagt", erklärt die Sozialpädagogin.
Sie ist überzeugt, dass ihr Einführungs-Kurz-Workshop zu Beginn des Schulvikariats genau richtig ist. Die 20 bis 25 Vikarinnen und Vikare eines jeden Jahrgangs müssen diskutieren, was es bedeutet, Nähe zuzulassen und gleichzeitig angemessene Distanz zu wahren.
Beim Ex-Vikar Florian Lengle ist folgendes hängen geblieben: "Dass man guckt, wie nah sitzt man zueinander. Geht es den beteiligten Personen damit gut? Dass man in Situationen erst mal einen Konsens herstellt. Dass für den einen eine Grenze ist, wenn man zwei Meter voneinander entfernt ist. Für den anderen ist es o.k, wenn man Kopf an Kopf sitzt."
Prinzip Transparenz
Und wenn es zu einem Seelsorge-Gespräch mit Minderjährigen kommt, weiß Florian Lengle, was er zu tun hat: "Dann sag ich, erstmal freue ich mich darüber, dass sie offensichtlich Vertrauen zu mir hat und sich mir gegenüber gerne öffnen möchte. Und dann frage ich sie, in welchem Kontext dieses Gespräch stattfinden soll? Ob das etwas ist, was sie unbedingt nur mit mir allein besprechen kann oder ob da jemand mit dabei sein kann? Wenn sie darauf besteht, es muss ein Gespräch allein unter uns sein, dann würde ich dafür sorgen, dass Leute wissen, dass dieses Gespräch stattfindet. Meinem Kollegen oder meiner Freundin würde ich Bescheid sagen, dass da jemand kommt."
Es gilt das Prinzip der offenen Tür und der Transparenz für alle Beteiligten. Das kann auch vor ungerechtfertigten Beschuldigungen schützen. Aber auch der junge Theologe weiß, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann.
Ende der Unbesorgtheit
"Weil der Pfarrberuf ein Beruf ist, der auf Vertrauen basiert. Ich kann im Gespräch nur darauf achten, dass wir uns nicht zu nahekommen. Dass Abstand zwischen uns besteht", sagt Lengle. Und wenn der oder die Hilfesuchende weint? Wie viel Körperkontakt ist dann noch möglich? "Da würde ich nach Konsens fragen. Ist es in Ordnung für Dich, wenn ich Deine Hand halte?", so Lengle weiter.
Und in Gruppensituationen? Eine Konfi-Freizeit mit den früher so üblichen Nachtwanderungen? Und dann, im Dunkeln oder gar im Zelt, Erschrecken, Klönen und Knuffen in die Seite? Der junge Gemeindepfarrer kann sich das heute so nicht mehr vorstellen. Die Unbesorgtheit, die früher vorherrschte, sei heute so nicht mehr möglich. Und das sei auch gut so.
Rechtliche Verschärfung
Doch die Evangelische Kirche in Deutschland will noch mehr Prävention. Die 13. Synode der EKD im November 2022 beschloss, das kirchliche Disziplinarrecht zu verschärfen. Personen in engen Abhängigkeitsverhältnissen, die eben auch in der Seelsorge entstehen können, sollen noch besser geschützt werden. Entsprechend soll auch der staatliche § 174c StGB, die Strafbarkeit von sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses auf Seelsorgeverhältnisse ausgeweitet werden. Sowohl im Bundesjustizministerium wie auch in der EKD befinde man sich jetzt im Beratungsprozess darüber, heißt es aus den jeweiligen Pressestellen.
Bis zur Verschärfung gilt zumindest in der EKBO das Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt vom 23. Oktober 2020 – mit Unwägbarkeiten. So ist nicht klar beschrieben, wann genau eine "Seelsorge- und -Vertrauensbeziehung" besteht. Auch das zu achtende "Nähe- und Distanzempfinden" ist nicht klar definiert. Und es besteht die "Verpflichtung der Mitarbeitenden zur Wahrnehmung der Meldepflicht in Fällen eines begründeten Verdachts auf sexualisierte Gewalt". Nur: Zeigt ein Pfarrer den anderen innerhalb eines Pfarrkonventes wirklich an? Auch wenn das anonym geschehen kann?
Mehr Sensibilität
Bei den 2 mal 90 Minuten zu Beginn des Vikariats gehe es aber auch nicht um eine juristische Einführung, sondern um Grundsensibilisierung für das Problem. Und das werde eben nicht als reine Pflichtübung einfach nur abgesessen.
"Ich erlebe in den Kursen eine große Offenheit. Die sind sensibilisierter als vielleicht frühere Generationen. Und sehr motiviert, auch mitzuwirken. Sie schreiben sich ganz viel auf. Das ist eine Einheit, wo jeder und jede zuhört", berichtet Margit Herfarth, die die Studienleitung Religionspädagogik in der EKBO innehat und somit auch die erste Ausbildungsphase im Vikariat mitbegleitet.
Auch Opfer im Talar
Sie erlebe wache Vikarinnen und Vikare, die mit dieser Sensibilisierung auch in die Schulen mit hineinwirken, sagt sie: "Dass die dann auch mal in den Schulen fragen: Wo hängt denn Euer Schutzkonzept und wie sieht denn das aus? Die Schulen haben ja selbst Konzepte. Dass es auch da mal zu einem Austausch kommt. Ach ja, wo hängt das im Lehrerzimmer? Können wir noch mal gucken?"
Mit der Grundsensibilisierung im Schulvikariat ist es aber nicht getan. Im weiteren Pfarrberuf soll es dann noch 4 Stunden Grundlagenschulung zum Thema geben. Auch ist jeder Kirchenkreis dazu verpflichtet, ein eigenes Schutzkonzept zur Prävention von sexualisierter Gewalt zu entwickeln. Ein Mal im Jahr muss auch ein Pfarrkonvent zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt stattfinden. Das werde vom Großteil seiner Amtskolleginnen und -kollegen im Pfarrkonvent nicht als lästige Pflicht empfunden, sondern begrüßt, sagt Florian Lengle.
Letztlich gehe es darum, das Bewusstsein für das Gesamtproblem zu erweitern. Studienleiterin Silke Hansen weist darauf hin, dass es nicht nur um die vermeintlichen potenziellen Täterinnen und Täter in den Gemeinden geht. Es müsse klar werden, dass es wahrscheinlich auch Opfer gibt, die heute Talar tragen: "Es geht um einen Kulturwandel, eine Kultur der Achtsamkeit. Die Statistik sagt, dass jedes vierte Mädchen und jeder 7. bis 9. Junge von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Wenn es 20 bis 25 Vikar:innen gibt, dann kann das bedeuten, dass Betroffene auch unter ihnen sind."