Es ist eine Schnapsidee, im wahrsten Sinne des Wortes: Bei einem feuchtfröhlichen Geburtstagsessen vereinbaren vier Freunde, eine These des Norwegers Finn Skårderud am eigenen leib zu überprüfen. Der Psychotherapeuten ist überzeugt, der Mensch komme mit zu wenig Alkohol im Blut auf die Welt, und zwar exakt ein halbes Promille. Wie würde sich das Dasein wohl gestalten, wenn es gelänge, diesen Pegel konstant zu halten? Und zwar schon vor dem Frühstück?
Als Vorbilder taugen verschiedene Berühmtheiten, deren Ruhm der Alkohol nicht geschadet habe, womöglich sogar im Gegenteil; allen voran Ernest Hemingway. Angeblich ist der Schriftsteller eisern der Maxime gefolgt, den Konsum ab 20 Uhr einzustellen, um sich am nächsten Tag einigermaßen klar an die Schreibmaschine setzen zu können. So will es das Quartett ebenfalls halten, zumal es einer Tätigkeit mit Vorbildfunktion nachgeht: Die vier Freunde sind Lehrer an einem Gymnasium.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das klingt nach einer Geschichte mit bedrohlichem Klamaukpotenzial, doch der dänische Film "Der Rausch" entpuppt sich als ernstzunehmendes Porträt von Männern in der Mitte ihres Lebens, denen der kontrollierte Suff eine willkommene Möglichkeit bietet, sich ihren Alltag schön zu trinken.
Martin (Mads Mikkelsen), die zentrale Figur des Films, stand einst vor dem Absprung in eine vielversprechende wissenschaftliche Karriere, aber dann kam die Familie dazwischen. Sein Beruf ist ihm schon lange keine Berufung mehr, sein Geschichtsunterricht langweilt ihn selbst genauso wie seine Schüler. Den jüngeren Kollegen (Markus Millang, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe) geht es kaum besser: Sie alle sind desillusioniert von der ereignislosen Schulroutine. Dank der frühmorgendlichen Dosis, die zwischendurch natürlich regelmäßig aufgefrischt werden muss, macht der Job plötzlich wieder Spaß.
Gerade Martin sprüht förmlich vor Esprit, seine Abiturklasse lässt sich begeistert mitreißen, aber natürlich sind die vier einen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Gerade Sportlehrer Tommy verliert jedes Maß, zumal Martin die Bedingungen mit einer Differenzierung der Ausgangsthese verschärft hat: Er hält das halbe Promille für eine willkürliche Wahl und behauptet, jeder Mensch habe ein individuelles Quantum. Die beinahe unausweichliche Steigerung ist der völlige Exzess und damit verbunden der Totalabsturz.
Der danische Regisseur Thomas Vinterberg hat 1995 gemeinsam mit seinem noch bekannteren Regiekollegen Lars von Trier "Dogma 95" verfasst, ein Manifest gegen die Wirklichkeitsentfremdung des Kinos; für seinen ersten Dogma-Film, "Das Fest" (1998), wurde er im Rahmen des Europäischen Filmpreises als "Europäische Entdeckung des Jahres" geehrt. Mittlerweile halten sich die "Dogma"-Initiatoren zwar längst nicht mehr sklavisch an die eigenen Vorgaben, aber einen gewissen dokumentarischen Charakter haben ihre Werke immer noch.
Auch Vinterberg, der das Drehbuch gemeinsam mit seinem langjährigen Koautor Tobias Lindholm geschrieben hat, beobachtet seine Hauptfigur wie ein Wissenschaftler die Teilnehmer an einer Studie. Seine Bestandsaufnahme ist buchstäblich ernüchternd. Der Alkohol ist ein Katalysator, im Guten wie im Schlechten: Martins Ehe, längst ebenso eintönig wie sein Beruf, blüht zwar vorübergehend auf, aber letztlich wirkt die Trinkerei wie ein Brandbeschleuniger. Es gibt einige ausgesprochen lustige Situationen, doch hinter der Oberfläche lauert stets das Drama; bei Tommy nimmt die Sache ein äußerst tragisches Ende.
Natürlich ist "Der Rausch" ein Film mit Botschaft, aber die gilt gar nicht so sehr der Warnung vor Schnaps, Wein und Bier. Oder um es mit den Toten Hosen zu sagen: Kein Alkohol ist auch keine Lösung. Dafür steht auch der Schluss, als sich Martin im Rahmen der Abi-Feier zu einer ekstatischen und von Mikkelsen beeindruckend akrobatisch dargebotenen Tanzeinlage hinreißen lässt; natürlich unter dem Einfluss von Alkohol.
Der international gefragte Schauspieler war bereits Vinterbergs Hauptdarsteller als vermeintlicher Kinderschänder in dem bedrückenden Drama "Die Jagd" (2012). Für seine Leistung in "Der Rausch" ist er 2020 mit dem Europäischen Filmpreis als Bester Darsteller geehrt worden; der Film wurde zudem in den Kategorien Beste Regie, Bestes Drehbuch sowie als Bester Film ausgezeichnet und hat 2021 den "Oscar" als Bester internationaler Film bekommen. In Dänemark war das Drama einer der erfolgreichsten einheimischen Filme der letzten Jahre.