Besonders viel hat sich in der Tat nicht getan: Aufklärung ist im Zweifelsfall nach wie vor eher lustfeindlich; vor allem, wenn es um die weibliche Lust geht. Im Vordergrund steht die Entstehung des Lebens, doch die Wissensvermittlung konzentriert sich auf anatomische Vorgänge. Viel zu viele Facetten des komplexen Themenbereichs werden schamhaft ausgeblendet oder gar tabuisiert, etwa der Aspekt Menstruation.
Sinn und Zweck dieses insgesamt gut 100 Minuten langen Streifzugs durch die Geschichte der Sexualität sollen allerdings keine konkreten Appelle sein, selbst wenn auch sachliche Fragen behandelt werden: Ist sexuelle Aufklärung Sache der Eltern oder der Schule, und inwieweit darf sich der Staat einmischen?
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Den Autorinnen Ina Kassebohm und Nadine Neumann ging es jedoch offenkundig vor allem darum, zwei gegenläufige Strömungen zu zeigen: hier die immer buntere Regenbogenwelt der sexuellen Vielfalt, dort die Gegenbewegung eines zunehmenden Konservatismus, der Enthaltsamkeit vor der Ehe predigt und alles ablehnt, was von der bürgerlichen Norm abweicht. Schon Homosexualität ist in diesen Kreisen verpönt, und selbstredend soll im Schulunterricht nicht auch noch propagiert werden, dass Jungen oder Mädchen womöglich im falschen Körper zu Wort gekommen sind.
Ein Kulturkanal vertritt selbstredend eine ganz andere Position, weshalb die Autorinnen bei der Gelegenheit auch für Toleranz werben wollen. Neben Expert:innen stammen die Aussagen daher vielfach von Menschen, deren Habitus sich radikal von dem unterscheidet, was im Allgemeinen als "bürgerliche Norm" gilt. Es kommt zwar auch ein launiges älteres Ehepaar zu Wort, das über seine Erfahrungen in der Jugend spricht, aber alle anderen Mitwirkenden würden sich vermutlich selbst als "queer" einstufen. Diese bunte Mischung ist ein wiederum ein weiteres Indiz dafür, dass Kassebohm und Neumann mit ihrer Dokumentation offenbar in erster Linie ein Potpourri im Sinn gehabt zu haben.
Das macht den Zweiteiler zwar sehr abwechslungsreich, lässt ihn aber auch etwas sprunghaft wirken, zumal viele Aspekte nur angerissen werden: Beate Uhse wird zur Aufklärerin der Nation, die Jugend holt sich Nachhilfe bei Dr. Sommer in der "Bravo", eine kurze Stippvisite Richtung Osten zeigt, dass die DDR schon längst viel weiter ist. Ein roter Faden ist nicht recht erkennbar, selbst wenn es immer wieder um die Diskrepanz zwischen menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Moralvorstellungen geht: Seit es eine öffentliche Sexualaufklärung gibt, ist sie mit der Furcht verbunden, Jugendliche überhaupt erst auf den Geschmack zu bringen und zu verfrühter Sexualisierung zu verführen.
Deshalb standen sich fortschrittliche und konservative Bewegungen seit jeher unversöhnlich gegenüber: Je stärker sich zum Beispiel in Folge der "sexuellen Revolution" nach Einführung der "Pille" progressive Lehrkräfte für eine angemessene Sexualerziehung einsetzten, umso vehementer waren Ende der Siebziger die Protesten gegen solche "neuheidnisch-sozialistischen" Bestrebungen.
Ein ähnlicher Trend ist heute wieder zu beobachten, und das nicht nur in den USA; auch hierzulande warnen reaktionäre Kreise vor der "Zerstörung der Kernfamilie", vor einer "Umerziehung der Kinder" und vor der "Abschaffung der natürlichen Geschlechter". All’ das steht in einem lesenswerten Artikel im aktuellen "Arte-Magazin". Der Dokumentation mit dem ohnehin recht beliebigen Titel "Let’s talk about sex" hätte die Konzentration auf einen derartigen Schwerpunkt sicher ebenfalls gut getan. Sehenswert ist sie dennoch, zumal die erwähnte Sprunghaftigkeit eine gewisse Kurzweiligkeit mit sich bringt.
Beim älteren Arte-Publikum dürfte zudem gerade der zweite Teil nostalgische Anwandlungen auslösen, wenn die Autorinnen an die Aufbruchstimmung der 70er Jahre erinnern. Den Anfang machte damals der Aufklärungsfilm "Das Wunder der Liebe" (1968) von Oswalt Kolle, der ein Millionenpublikum über die in vielen Ehen zu kurz kommenden weiblichen Bedürfnisse informierte. Sehr viel weiter als vor gut fünfzig Jahren sind wir immer noch nicht, glauben Kassebohm und Neumann. Nur dreißig Prozent der Frauen wüssten, was eine Vulva und was eine Klitoris ist; vielleicht gewährt der erste Teil deshalb einer etwas schrägen Vulva-Malerin so viel Sendezeit. Übrigens sind die beiden Filme dem Thema zum Trotz optisch völlig harmlos und jugendfrei.