"Die Auswirkungen betreffen die ganze Gesellschaft", sagt Bertram Neumann. Der Leiter des Seniorenzentrums Martha-Maria in Nürnberg erhält täglich 10 bis 15 Anfragen, ob ein Pflegeplatz in seiner Einrichtung frei ist, berichtet er bei einer Pressekonferenz der Diakonie am Dienstag in Nürnberg. Nur ein- bis zweimal pro Woche kann er ein Anmeldeformular verschicken - weil ihm das Personal fehlt. Wegen der Mehrbelastung gehen Mitarbeiter des Heims in Teilzeit. Aber auf Zeitarbeit möchte sich Neumann nicht einlassen, weil ihm die zu teuer kommt. "Die Situation geht an denen raus, die keinen Platz bekommen", stellt er fest.
Aber auch die Jugendhilfe hat plötzlich kaum mehr Fachkräfte, beschreibt der Leiter des Martin-Luther-Hauses in Nürnberg, Christian Debebe, die Lage. "Das Problem hat uns überrannt", stellt er fest. Mitarbeiter:innen kündigten wegen der Mehrbelastung, viele würden in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen und zu wenig Nachwuchs komme nach. Ohne Fachkräfte von Zeitarbeitsfirmen kann Debebe den Normalbetrieb in den Wohngruppen nicht mehr aufrecht erhalten, sagt er. Diese vermittelten Arbeitnehmer würden ihn aber das 1,8-fache des Stammpersonals kosten.
Die Diakonie Bayern prognostiziert, dass immer mehr soziale Einrichtungen in Bayern in nächster Zeit schließen müssen. Wenn nicht mehr Fachpersonal gefunden werde, seien davon der Pflegebereich, die Kinder- und Jugendfürsorge und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung betroffen, warnt die Präsidentin der Diakonie Bayern, Sabine Weingärtner: "Die Lage ist im wahrsten Wortsinn todernst." Es gehe nicht mehr darum, wie gut die Versorgung ist, sondern darum, "wird es diese Einrichtungen morgen noch geben".
Den Personalmangel spürten alle Anbieter sozialer Dienste, sagte sie. So habe etwa eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung der AWO in Ochsenfurt im September 2022 schließen müssen. Das Katharina-von Bora-Altenheim in Michelau machte ebenfalls zu, weil dort nicht mehr genügend Betten belegt werden konnten.
Gravierend sei das Problem auch in den Erziehungsberatungen, die "nur mit größten Mühen" von den Trägern aufrechterhalten werden könnten, sagte Weingärtner. Diese Angebote seien "chronisch unterfinanziert", würden nach Corona aber mehr denn je gebraucht. Daher würden die Träger Eigenmittel aufbringen und so Kosten übernehmen, "die eigentlich der Staat bezahlen sollte".
"Ein Weiterso wird den Kollaps bedeuten", schilderte die für das Fachgebiet Altenhilfe zuständige Diakonie-Vorständin Sandra Schuhmann die Situation. Der Personalmangel sorge in Senioreneinrichtungen für leerstehende Betten. Somit würden den Trägern Einnahmen fehlen, die Investitionskosten blieben aber gleich. Einen der Gründe für wirtschaftliche Schieflagen macht auch Schuhmann bei der Leiharbeit aus. Für Leiharbeitskräfte müssen die Einrichtungen oft das Doppelte bezahlen wie für das Stammpersonal. Preiswucher von Vermittlungsunternehmen müssten Grenzen gesetzt werden, forderte sie.
Schuhmann räumte ein, die Politik begreife allmählich "den Ernst der Lage". Getroffene Maßnahmen würden aber zu spät kommen oder seien "unterdimensioniert", weil die steigenden Energiekosten und die Inflation die Einrichtungen zusätzlich bedrohten. Wichtig sei jetzt, dass die Kostenträger auch mal neue Konzepte ausprobierten.