Er sei mit sich im Reinen, schreibt Johann in seiner Abschiedsnotiz. Vermutlich wollte er Juliane auf diese Weise mitteilen, dass sein Suizid nichts mit ihr zu tun habe und sie sich keine Vorwürfe machen brauche, aber das funktioniert natürlich nicht: Wenn sich ein Mensch das Leben nimmt, fragen sich alle um ihn herum, warum sie die Zeichen nicht beizeiten erkannt haben. Juliane benötigt zwei Jahre, um den Schicksalsschlag hinter sich und die Vergangenheit loszulassen; und davon erzählt "Laufen", die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Isabel Bogdan.
Das Besondere an der Adaption durch die unter anderem für den Sat.1-Zweiteiler "Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen" (2008) mehrfach ausgezeichnete Autorin Silke Zertz ist die assoziative Erzählstruktur: Das Drehbuch schildert die Geschichte nicht chronologisch; der Film wechselt vielmehr ständig die Zeitebenen und reiht Momentaufnahmen aneinander.
Trotzdem wirkt die Handlung nie sprunghaft, weil sämtliche Szenen mit Johanns Tod verknüpft sind. Einige Ereignisse zuvor erscheinen nun in anderem Licht, und alles, was danach kommt, erlebt Juliane (Anna Schudt) ohnehin wie durch Watte, weil ihr Dasein jegliche Freude eingebüßt hat. Selbst in der geliebten Musik – die Cellistin ist Mitglied eines Orchesters – findet sie keinen Trost mehr.
Einziger Ausweg aus diesem kummervollen Dasein ist das Laufen, selbst wenn ihre schleppenden Schritte sie zunächst an die Zombie-Serie "Walking Dead" erinnern. Als sie zu Beginn, bereits am Ende ihrer Kräfte, wissen will, welche Strecke sie schon zurückgelegt hat, ist die Erkenntnis mehr als ernüchternd: nicht mal 300 Meter.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In anderem Kontext wäre das witzig. Hier unterstreicht die Szene bloß, wie frustrierend sich für Juliane ausnahmslos alles anfühlen muss, zumal Johanns Eltern (Gaby Dohm, Michael Abendroth) ihr die Schuld am Tod ihres Sohnes geben. Rücksichtslos packen sie alles ein, was ihm gehörte; auch die Gitarre, die Juliane ihm geschenkt hat. Da das Paar nicht verheiratet war, kann die Witwe ohne Trauschein nicht mal Einfluss auf die Bestattungsmodalitäten nehmen.
Einziger Lichtblick ist Rike (Katharina Wackernagel). Sie ist genau der Mensch, den jemand wie Juliane nun braucht, aber irgendwann ist auch ihre Kraft am Ende; sie füttere ihre Trauer wie ein Haustier, wirft sie der Freundin vor.
Natürlich ist "Laufen" ein sehr berührender Film, zumal Anna Schudt das Kummerglas bis zur bitteren Neige leert. Neben dem ungeschminkten Gram stellte die Rolle auch eine hand- und fußwerkliche Herausforderung dar, schließlich musste sie nicht nur ständig joggen, sondern auch überzeugend Cello spielen.
Trotzdem ist das Drama nicht deprimierend, selbst wenn Julianes Trauerarbeit ähnlich wie ihr Ausgleichssport erst mal längere Zeit kaum von der Stelle zu kommen scheint. Das Adjektiv "kurzweilig" mag in diesem Zusammenhang etwas deplatziert wirken, aber die Erzählweise sorgt tatsächlich für eine gewisse Leichtfüßigkeit.
Geschickt sorgen Zertz und der mit allen wichtigen Film- und Fernsehpreisen geehrte Regisseur Rainer Kaufmann zudem dafür, dass sich die vielen Mosaiksteinchen beinahe beiläufig zu einem schlüssigen Bild zusammensetzen. Anfangs sind die Rückblenden in die gemeinsame Zeit mit Johann (Maximilian Brückner) fast verklärend; später zeigen sich erste Risse in der Beziehungsfassade.
Zertz hat zuletzt unter anderem gemeinsam mit Frauke Hunfeld erst den Polit-Thriller "Gefährliche Wahrheit" (2021) und anschließend mit "Lauchhammer" eine der besten Serien des letzten Jahres geschrieben. Wie sie den inneren Monolog des im Grunde unverfilmbaren Romans und die einseitigen Zwiegesprächen Julianes mit Johann in einen Handlungsfluss gebettet hat, ist außerordentlich beeindruckend.
Großen Anteil hat naturgemäß auch die Musik; Richard Ruzicka hat die Stücke, die das Streichorchester spielt, eigens für den Film komponiert. Dass "Laufen" aller Tristesse zum Trotz mit einem guten Gefühl endet, hat vor allem mit dem Finale zu tun. Zwar verdeutlicht eine Rückblende, dass Johanns Suizid keineswegs im Affekt geschah, aber Juliane hat sich mit Hilfe einer Therapeutin (Victoria Trauttmansdorff) und vor allem dank des Laufens aus ihrem Tal herausgekämpft. Deshalb ist das Drama ein Film, der Mut macht: Zertz, Kaufmann und Schudt, deren Leistungen gleichermaßen preiswürdig sind, machen keinen Hehl daraus, wie niederschmetternd sich Julianes Verlust anfühlt, doch nun ist sie endlich wieder in der Lage, den Applaus für einen herausragenden Auftritt zu genießen und sich sogar für eine neue Beziehung zu öffnen.