In den frühen Achtzigerjahren galt St. Pauli als "Chicago des Nordens". Deutschlands berühmteste Amüsiermeile, die Reeperbahn, hatte sich zum Schauplatz von Menschenhandel und Bandenkriegen gewandelt. Selbst die Polizei war ins Zwielicht geraten: Razzien liefen ins Leere, weil es ein Leck im Präsidium gab. Zwischenzeitlich wurde sogar gegen den Kripochef persönlich ermittelt. Um den Sumpf trocken zu legen, initiierte Wolfgang Sielaff, der spätere Leiter des 1989 gegründeten Landeskriminalamts, eine Sondereinheit, die untersuchen sollte, ob es in Hamburg organisierte Kriminalität gebe.
Die Doku-Serie "Reeperbahn Spezialeinheit FD65" würdigt die Arbeit dieser Soko, die innerhalb des Polizeiapparats über eigene Strukturen verfügte und nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch gegen Korruption in den eigenen Reihen vorging.
Das Spielfilmpotenzial ist offenkundig, und tatsächlich ist die Reihe spannend wie ein Krimi. Das hat natürlich auch und vor allem mit den Geschichten zu tun, die Sielaff – er diente auch als Vorbild für die Hauptfigur des ARD-Mehrteilers "Das Geheimnis des Totenwaldes" (2021) – und seine Teammitglieder erzählen. Es ist jedoch nicht zuletzt die optische Umsetzung (Regie: Georg Tschurtschenthaler, Carsten Gutschmidt, Ina Kessebohm), die die fünf Teile aus dem dokumentarischen Alltag herausragen lässt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Machart orientiert sich mit ihrer Mischung aus Interviews, Spielszenen und zeitgenössischem Material zwar am gewohnten Schema solcher Produktionen, aber die Bilder sind stellenweise spektakulär. Dennoch sind es in erster Linie die Mitwirkenden, die dafür sorgen, dass die Serie auch über fünf Teile fesselt, und das gilt keineswegs nur für Sielaffs Team: Die Vertreter der Unterwelt sind markante charismatische Typen und ihrem jeweiligen Kerbholz zum Trotz teilweise gar nicht mal unsympathisch.
Sogar die ehemaligen Polizisten äußern sich durchaus respektvoll über die Gangster. Einer der prominentesten Vertreter seiner Zunft war Wilfrid Schulz, offiziell Unternehmer und Veranstalter von Boxkämpfen und selbst auf den alten Schwarzweißaufnahmen eine blendende Erscheinung. Seine rechte Hand war ein vierschrötiger Typ namens "Dakota-Uwe", dessen Sohn die Reihe mit seinen Kindheitserinnerungen um einen besonderen Blickwinkel bereichert.
Natürlich ist Produzent Christian Beetz, der die Drehbücher gemeinsam mit Kessebohm, Tschurtschenthaler sowie Florian Fettweiß geschrieben hat, nicht der erste, der das Potenzial der Materie erkannt hat. Die Hamburger Davidwache und mit ihr die Reeperbahn waren bereits in den Sechziger- und Siebzigerjahren Schauplatz für Kinokrimis von Regiegrößen wie Jürgen Roland ("Polizeirevier Davidswache", 1964) und Wolfgang Staudte ("Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache", 1971).
Noch heute zehrt der ARD-Dauerbrenner "Großstadtrevier" (seit 1986) vom berüchtigten Ruf des Rotlichtmilieus rund um das Polizeirevier. Mit der Verruchtheit von einst haben die braven Vorabendepisoden allerdings kaum noch etwas gemeinsam; die Ereignisse, von denen "Reeperbahn Spezialeinheit FD65" berichtet, sind zum Teil von ergreifender Grausigkeit. Einem hartgesottenen Staatsanwalt kommen noch heute die Tränen, wenn er sich daran erinnert, wie er der Gattin eines Kollegen eine erschütternde Nachricht zu überbringen hatte: Die Ehefrau des als "Killer von St. Pauli" zu zweifelhaftem Ruhm gekommenen mehrfachen Mörders Werner Pinzner hatte eine Waffe ins Präsidium geschmuggelt; ihr Mann schoss erst den Staatsanwalt in den Kopf und tötete dann seine Frau und sich selbst.
Die Drehbücher schildern die Geschichte der Spezialeinheit chronologisch, orientieren sich aber jeweils an wechselnden Schwerpunkten: Folge eins beschäftigt sich mit dem schillernden Schulz, Folge zwei beschreibt, wie die amerikanische Mafia auf der Reeperbahn Fuß fassen wollte. Besonders interessant ist die dritte Episode, denn sie ist der weiblichen Perspektive gewidmet: Zu Wort kommen nicht nur ehemalige Prostituierte, sondern auch Polizistinnen, die es damals naturgemäß nicht leicht hatten; auch nicht im Verhältnis zu den Kollegen. Teil vier dokumentiert, wie sich verschiedene Rockergangs in St. Pauli breit machten und Angst und Schrecken verbreiteten. Der Abschluss schließlich handelt von der Jagd auf den Auftragskiller, der vermutlich dreizehn Menschen auf dem Gewissen hatte. "Reeperbahn Spezialeinheit FD65" ist beim Filmfest Hamburg mit dem Produzentenpreis ausgezeichnet worden.